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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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automatisch eine Hand aus, um Jake zu wecken, überlegte es sich aber anders. Schnell warf sie sich eine Decke über, verließ eilig das Zimmer und fuhr mit dem Aufzug hinunter ins Foyer. Barfuß lief sie hinaus in den Schnee und merkte doch die Kälte kaum.
    Es schneite schon wieder. Große flauschige Flocken, die sich beim Hinunterfallen zusammenballten. Das Pferd stand vollkommen reglos da, als sie näher kam, und gab keinerlei Zeichen, dass es sie bemerkt hatte.
    Es war ein riesiger Hengst mit kräftigem Widerrist und einer muskelbepackten Hinterhand. Zoe kannte sich mit Pferden gut genug aus, um abschätzen zu können, dass sie es mit einem atemberaubend großen Exemplar von zwei Metern Stockmaß zu tun hatte. Auch wenn das Pferd ohnehin nicht zum Reiten gesattelt war, könnte man dieses Tier nur mithilfe einer kleinen Leiter besteigen. Sie legte ihm eine Hand auf die Flanke und spürte die Wärme seines Fells. Schneeflocken schmolzen, kaum waren sie auf die dampfenden Schenkel gefallen. Winzige Glocken waren nebeneinander auf das polierte Ledergeschirr genäht, und in das Metall der einzelnen Glocken war das Emblem einer sechszackigen Schneeflocke geprägt.
    Das Pferd wartete geduldig, wie auf ein Zeichen. Zoe fuhr ihm mit der Hand über Schulter und Hals und konnte nicht bis hinauf zu der Stelle zwischen den Ohren reichen, so groß war das Tier. Das Pferd spitzte bei ihrer sanften Annäherung die Ohren, und Nebelwölkchen stiegen aus seinem Maul auf.
    »So schwarz vor dem Schnee! Du bist wunderschön!«, sagte Zoe. »Wunderschön!«
    Sie ging zum Kopf des Pferdes. Seine Nüstern waren beängstigend, sich blähende schwarze Löcher, die schnaubend Dampf ausstießen. Es schien wie ein Geschöpf, das den Ursprüngen des Universums entsprungen war. Das Pferd wandte den Kopf ein wenig von ihr ab, sodass sein Auge, das sie unbewegt anschaute, wie ein schwarzer Obsidian-Spiegel schimmerte, in dem sie sich verzerrt sehen konnte: ein kleines Ding, in eine kleine Decke gewickelt, das hoffnungsvoll und staunend aufschaute. Das Pferd warf den Kopf zurück, schüttelte den scharlachroten Federbusch und fing wieder an, auf dem Gebissstück herumzukauen. Zoe versuchte, ihm sanft in die Nüstern zu pusten, doch es schüttelte wieder den Federbusch. Was sie als Zeichen deutete, dass es ihre frontalen Annäherungsversuche nicht goutierte.
    Also ging sie um das geduldige Tier herum und schaute sich den Schlitten näher an, den es zog. Es war eine einfache Konstruktion: ein schwerer Holzrahmen mit riesigen Stahlkufen, die durch den Schnee glitten. Der Sitz war bequem mit edlem schwarzem Leder mit Samtkante bezogen. Der Sitz wirkte groß genug für zwei oder mehr Passagiere, aber es schien keine Bank für den Kutscher zu geben. Die nietenbeschlagenen Lederzügel lagen verschlungen über die Vorderseite des Schlittens geworfen, als warteten sie nur darauf, dass jemand sie aufnahm.
    Zoe überlegte, den Sitz auszuprobieren. Sie hob den Fuß, um auf das Trittbrett zu steigen, doch es war viel zu hoch für sie. Mit einem kleinen erstaunten Schrei sprang sie zurück. Das Trittbrett war jetzt auf einer Höhe mit ihrem Kopf, und Pferd und Schlitten schienen sich auszudehnen. Nun waren sie Angst einflößend, kolossal, und sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das zu einem gewaltigen Tier aufblickte. Und mehr noch, kaum war sie von dem Pferd zurückgetreten, war es, als zuckte eine unsichtbare Peitsche, denn es warf den Kopf und trabte an.
    »Hey!«, rief Zoe ihm nach. »Hey!«
    Doch da war der Hengst schon auf und davon und trottete in scharfem Tempo durch die sachte fallenden Schneeflocken von dannen, während die Glöckchen bimmelten wie eine klingelnde Ermahnung. Zoe schaute ihm hinterher. Das Pferd und der leere Schlitten nahmen eine Biegung in der Straße und verschwanden hinter einer dunklen Reihe schneebeladener Nadelbäume.
    Zoe wartete, bis der Klang verhallt und wieder Stille eingekehrt war. Sie schaute die Straße hinauf und hinunter. Dann ging sie zurück zum Hotel und hinauf ins Zimmer, wo Jake noch immer tief und fest schlief.
    Sie setzte sich auf das Bett und schaute zu, wie seine Brust sich sachte hob und senkte. Schließlich streckte sie die Hand aus und nahm seine Hand, halb in der Hoffnung, er möge aufwachen, halb in der Hoffnung, er möge weiterschlafen. Sie beschloss, es dem Schicksal zu überlassen. Wenn er aufwachte, würde sie ihm von dem Pferd draußen erzählen. Wenn nicht, dann nicht. Sie fragte sich, warum

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