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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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wissen.
    »Nichts.«
    Sie wollte ans Fenster treten, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, aber er drehte sich rasch um und versperrte ihr den Weg. Kichernd versuchte sie, an ihm vorbeizuschlüpfen. Wieder stellte er sich ihr entgegen.
    »Was machst du denn?«
    Er antwortete nicht. Hielt sie nur fest, sodass sie nicht zum Fenster kam. Sie versuchte, seine Arme wegzuschieben, aber er hielt sie fest umklammert und bugsierte sie zum Bett, auf das er sie dann rückwärts schubste.
    »Runter von mir, Jake! Ich will es sehen.«
    Entschieden schob sie ihn beiseite, sprang auf und flitzte ans Fenster. Neugierig schaute sie hinaus in den Schnee. Der Himmel kündigte erneut schwere graue Wolken an. Gewunden verschwand die Straße in der Ferne, beiderseits von Bäumen flankiert wie die gefrorenen Wachposten eines vergessenen Krieges. Nichts, was sie nicht vorher schon gesehen hatte.
    Jake trat hinter sie und spähte über ihre Schulter hinaus. Dann griff er mit dem Arm um sie herum und strich über ihren Bauch.
    »Was war da?«, wollte sie wissen.
    »Nichts.«
    »Du lügst.«
    »Ja.«
    »Dann sag es mir.«
    »Nein.«
    Irgendwas ließ sie erschaudern. Unvermittelt drehte sie sich um, packte sein Kinn mit der Hand und drückte zu. »Willst du mich etwa schützen? Ich will nicht beschützt werden. Was auch immer es über diesen Ort zu wissen gibt, ich will, dass du es mir sagst.«
    Er nahm ihre Hand von seinem Mund. »Da war ein Pferd.«
    »Ein Pferd?«
    »Ja, ein Pferd. Und ein Schlitten. Es hat dort gewartet. Jetzt ist es weg.«
    »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Ich habe es schon mal gesehen. Es hat mir Angst gemacht.«
    »Wie meinst du das? Du hast es schon mal gesehen?«
    »Ja. Ein paarmal.«
    »Ich auch.«
    »Was? Du hast es gesehen? Du hast das Pferd gesehen und mir nichts davon erzählt?«
    »Ja. Ein riesiges schwarzes Pferd mit einem roten Federbusch, das einen gewaltigen Schlitten gezogen hat.«
    »Wie konntest du mir das verschweigen? Zoe, was hast du dir bloß dabei gedacht?«
    »Hörst du, was du da sagst? Eben wolltest du mich nicht mal aus dem Fenster schauen lassen.«
    Er schüttelte den Kopf und sank in einen Sessel. »Also gut. Versprechen wir uns was. Wir sollten nicht versuchen, einander zu schützen. An diesem Ort. Das ist mein Ernst.«
    Jake staunte nicht schlecht, als er hörte, wie Zoe sich mitten in der Nacht hinausgeschlichen hatte und zu dem dampfenden Pferd gegangen war; dass sie seine Flanken gestreichelt und sogar versucht hatte, in den Schlitten zu steigen. Sie erzählte ihm, dass Pferd und Schlitten gewaltig waren, und dass sie, als sie versucht hatte, auf den Schlitten zu klettern, ohne Vorwarnung fast in den Himmel gewachsen waren; oder womöglich war auch sie selbst bloß geschrumpft, wie Alice im Wunderland.
    Sie beschlossen, nach draußen zu gehen und sich die Stelle anzuschauen, an der das Pferd gestanden hatte.
    Man sah Spuren im Schnee, die die Kufen des Schlittens und die Hufe des Pferdes hinterlassen hatten. Außerdem lagen ein paar Pferdeäpfel da.
    »Na ja, das beweist zumindest, dass es echt ist«, meinte Jake, »aber schau dir das Zeug mal an.«
    Womit er mit dem Skihandschuh einen Pferdeapfel aufhob und ihr zur näheren Betrachtung unter die Nase hielt.
    »Hübsch. Danke.«
    »Schau dir das an.«
    Form und Beschaffenheit waren die eines ganz gewöhnlichen Pferdeapfels. Aber er changierte in sämtlichen Regenbogenfarben. Er glitzerte. Er schillerte blau, grün, rot und violett; ein Farbenwirbel, der aus sich heraus zu leuchten schien.
    »Träumen wir das alles?«, fragte Zoe. »Ist das alles bloß eine Sinnestäuschung?«
    »Nein, ist es nicht.«
    Doch noch während Jake ihn in der Hand hielt, verblasste der funkelnde Pferdeapfel, bröckelte, zerfiel zu Sand und löste sich in Luft auf. Auch die restlichen Pferdeäpfel im Schnee verschwanden, ebenso wie die Hufabdrücke und die schienenartigen Spuren der Kufen.
    »Und ich wollte gerade vorschlagen, dass wir der Spur folgen«, murmelte Jake.
    »Jake, wir haben es eine ganze Weile nicht mehr versucht.«
    »Was haben wir nicht mehr versucht?«
    »Einfach rauszuspazieren.«
    »Nein.«
    »Und warum nicht?«
    »Weil, wo wir hier sind, Pferde Regenbogen äppeln.«
    »Stimmt.«
     
    Sie gingen zurück zum Hotel. Weder Licht noch Heizung funktionierten, und die Temperatur ging rapide zurück. Erstaunlich, wie schnell ein Hotel von dieser Größe auskühlte. Jake fiel wieder ein, dass er in dem Haus, das er geplündert hatte,

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