Schneesturm und Mandelduft
vielleicht Spuren, die er selbst offenbar übersah. Im Augenblick hatte er nicht die geringste Ahnung, wer den alten Mann ermordet hatte. Er war um keinen Deut klüger als am Vortag und begann ernsthaft, an seiner eigenen Kompetenz zu zweifeln.
»Ich glaube, ich werde mich nach dem Essen ein wenig aufs Ohr legen«, erklärte Harald und klopfte sich auf den dicken Magen.
»Ja, das ist eine gute Idee«, antwortete Martin und unterdrückte ein Gähnen.
Die gedrückte Stimmung im Haus in Verbindung mit all dem Essen und Trinken machte ihn unglaublich müde. Dabei hatte er ja bereits eine Stunde geschlafen.
»Ich gehe hoch und lege mich hin«, sagte er zu Lisette und stand auf. Sie murmelte etwas Unverständliches als Antwort und weigerte sich noch immer, ihn anzublicken.
Kurz darauf hörte Martin von seinem Bett aus, wie Tür nach Tür geschlossen wurde. Die meisten schienen seinem Beispiel zu folgen. Als Letztes vor dem Einschlafen hörte er das Krachen des Gewitters draußen.
Britten erwachte mit dem Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie versuchte, das Unbehagen abzuschütteln. Hatte sie etwas Komisches geträumt? Aber das Gefühl wollte nicht verschwinden. Etwas stimmte nicht.
Sie setzte sich auf und lauschte, hörte jedoch nur Haralds Schnarchen neben ihr im Doppelbett und das Gewitter. So ein Unwetter hatte sie noch nie erlebt. Zwischendurch hatte es den Anschein gehabt, dass es etwas nachließ, kehrte dann aber mit umso größerer Kraft zurück. Sie glaubte, dass Donner sie geweckt hatte. Ganz sicher war sie jedoch nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es etwas anderes gewesen war …
Sie legte sich wieder hin und schloss die Augen. Aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Sie setzte sich von neuem auf.
Harald grunzte und drehte sich zur Seite. Wenn er einmal schlief, konnte ihn kein Unwetter auf Erden wecken. Sie schwang die Beine über die Bettkante und setzte die Füße auf den Boden. Sie hatte zwar Socken an, spürte aber dennoch, wie kalt der Fußboden war.
Die Sorge um Matte ergriff sie mit voller Wucht, und ihr wurde beinahe übel. Dass das nie aufhörte. Diese Sorge um die Kinder.
Sie fing im Kreißsaal an und dauerte bis in alle Ewigkeit. Lisette begriff nur nicht, dass Britten sich ebenso um sie sorgte wie um Matte. Und sie ebenso liebte. Nur drückte sich das anders aus.
Matte hatte viel mehr aktiven Einsatz erfordert als Lisette. Viel mehr praktische Maßnahmen.
Britten seufzte, stand auf und zog sich eine Jacke über. Im Haus war niemand zu hören. Es war beinahe gruselig still.
Sie ging langsam zur Tür, unschlüssig, was sie tun sollte. Lisette hatte sich auf das Sofa in der Bibliothek gelegt, und sie wollte sie nicht wecken. Fühlte sich nicht in der Lage, jetzt mit ihrer Tochter zu diskutieren. Nicht mit all diesem Unbehagen im Leib.
Als sie im Flur stand, wusste sie, wohin sie gehen würde. Sie musste bei Matte vorbeischauen. Wenn er schlief, ihm einfach nur über die Haare streichen wie damals, als er noch klein war. Wenn er wach war, kurz mit ihm reden und sich vergewissern, dass es ihm gut ging.
Sie drückte vorsichtig die Klinke seiner Zimmertür herunter. Vielleicht hätte sie vorher anklopfen sollen, aber sie hoffte fast, dass er schlief. Britten wollte an seiner Bettkante sitzen, seine friedlich schlafende Gestalt betrachten und sehen, wie all die Gesichter, die im Laufe der Jahre gekommen und wieder verschwunden waren, sich in seinen erwachsenen Zügen widerspiegelten. Matte als Kleinkind, als endlos fragender Fünfjähriger, als neugieriger Grundschüler, als mürrischer Teenager.
Sie schob die Tür behutsam auf und trat ein. Ein Schrei.
Vivi konnte nicht schlafen. Seit fast einer Stunde lag sie da und starrte an die Decke. Gustav war im Handumdrehen eingeschlafen. So war es immer. Er schlief sofort ein, und sie lag stundenlang da und starrte in die Finsternis. Eigentlich hatte sie sich nach dem Essen gar nicht hinlegen wollen, aber alle anderen hatten sich zurückgezogen, da war ihr keine Wahl geblieben.
Draußen lief jemand durch den Flur. Sie stützte sich auf die Ellbogen, um sich ein wenig aufzurichten und besser zu hören. Kurz darauf wurde eine Tür geöffnet.
Und dann der Schrei. Nicht menschlich. Es klang wie ein Tier, das vor Schmerz aufheulte, und durch den Schock schlug ihr Herz so schnell wie die Flügel eines Kolibris.
»Hä, was zum Teufel?« Gustav setzte sich verschlafen auf und blickte sich mit aufgerissenen Augen im Zimmer um. »Was zum Teufel
Weitere Kostenlose Bücher