Schneesturm und Mandelduft
Matte in den Kühlraum zu bringen, wo er vorübergehend neben seinem Großvater ruhen würde. Und Martin freute sich nicht darauf, die anderen deshalb um Hilfe zu bitten.
Lisette schlief unruhig. Das Sofa war zwar bequem, aber düstere Träume störten die ganze Zeit ihre Ruhe. Sie hatte sich Stöpsel in die Ohren gesteckt, um den Sturm auszublenden, doch in der dadurch entstehenden Stille war Raum für zu viele Gedanken, für zu viel Unruhe.
Die Träume verfolgten sie. Die Gesichter verschmolzen ineinander. Aus Ruben wurde Bernard, der wiederum wurde zu Matte. Vorwurfsvolle Blicke. Traurige Blicke. Verzweifelte Blicke. Augen, die sich wut- und hasserfüllt auf sie richteten. Hinter den Lidern bewegten sich unentwegt ihre Augen. Etwas drang durch die Ohrstöpsel, ein Geräusch von draußen. Ein Schrei aus Schmerz und Verzweiflung. Aber die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit war verschwommen, und der Schrei wurde ein Teil des Traums. Er passte gut zu den Augen, die sie verfolgten.
Trotz der Träume kämpfte sie, um im Schlaf zu bleiben. Die Wirklichkeit war nicht viel besser, das Aufwachen brachte kaum Besserung. Aber sie war schon allmählich aus dem Schlaf geglitten, als sie eine Hand auf der Schulter spürte. Verschlafen blickte sie auf. Sie sah das Gesicht ihres Vaters. Es war so verzerrt, dass sie es kaum wiedererkannte. Sie setzte sich mit einem Ruck kerzengerade auf.
»Was ist denn, Papa?« Instinktiv wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Überhaupt nicht stimmte. Die Erinnerung an den Schrei, der im Traum wie echt geklungen hatte, drängte sich auf. Sie packte ihren Vater hart am Arm.
»Erzähl schon, was ist?« Erst jetzt sah sie, dass die Bibliothek voller Menschen war. Alle waren da. Sie sah ihre Mutter, auf einem der Sessel zusammengesunken, und Lisette wurde von Panik gepackt.
Sie klammerte sich an Haralds Arm, als er sich schwer neben sie fallen ließ. »Aber was ist denn passiert?« Sie blickte die anderen an, und langsam dämmerte es ihr. Alle waren da … alle außer …
»Matte!«, schrie sie. »Wo ist Matte?« Sie wollte aufstehen, doch ihr Vater hielt sie zurück und legte die Arme um sie. Zum Trost, aber auch, um sie zurückzuhalten.
»Es ist etwas − Furchtbares passiert, Lisette.« Er stockte, und Lisette wurde klar, dass sie ihren Vater zum ersten Mal weinen sah. Allein das reichte aus, um alle Alarmglocken schrillen zu lassen.
»Wo ist Matte?«, wiederholte sie. Ihre Stimme war dünn und leblos. Sie wusste es bereits. Es stand den anderen ins Gesicht geschrieben.
»Matte ist tot«, sagte Harald und bestätigte, was ihr Gehirn schon verstanden hatte.
Sie schluchzte auf, noch immer in dem merkwürdigen Gefühl befangen, sich in einem Traum zu befinden. Das konnte doch nicht wahr sein. Nicht Matte. All die Bitterkeit, die sie ihm gegenüber empfunden hatte, rann aus ihr heraus und verschwand, als hätte es sie nie gegeben.
»Wie?«, fragte sie und merkte, dass ihre Hände unkontrolliert zitterten.
»Er ist erschossen worden«, antwortete Harald.
»Von wem?« In ihrem Kopf wirbelten die Fragen durcheinander.
»Wissen wir nicht …« Harald strich sich mit der freien Hand über die Augen. Lisette wurde plötzlich klar, in welchem Zustand sich ihre Mutter befinden musste und stürzte zu Britten. Sie legte ihr den Kopf in den Schoß und weinte, während sie ihr die Hände streichelte. Britten hatte aufgehört zu weinen und zu schreien und schien sich unter Schock zu befinden. Sie starrte ins Leere und strich Lisette nur abwesend übers Haar.
»Ich bräuchte kurz Hilfe«, war plötzlich Martins Stimme an der Tür zu vernehmen. Er war ganz grau im Gesicht und vermied es, Britten anzusehen, als könnte er ihren Schmerz nicht ertragen. Es dauerte einige Sekunden, bis die anderen begriffen, was er meinte. Dann erhob sich Harald als Erster. Gustav trat zu seinem Bruder und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die Bewegung wirkte unbeholfen, verriet aber viel Mitgefühl.
»Wir übernehmen das, Harald. Bleib du bei deiner Familie.« Gustav nickte Bernard zu, der ihm daraufhin schweigend zunickte, und sie folgten Martin. Gustav zog die Tür hinter ihnen ins Schloss. Es war unnötig, dass die anderen sahen, was jetzt getan werden musste.
»Was machen sie?« Brittens Stimme klang apathisch und abwesend.
Lisette drückte die Hände ihrer Mutter.
»Kümmer dich nicht darum, Mama.«
»Bringen sie Matte weg? Wohin legen sie ihn? Ich muss ihn zudecken, damit er nicht friert.« Britten
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