Schneetreiben
Straßen und Schienennetze blockieren. Außerdem ist über der A31 ein Starkstromkabel
gerissen. Es kann zwei bis drei Stunden dauern, bis es hier weitergeht, das hat
man dem Busfahrer über Funk mitgeteilt.«
»Ach herrje.«
»Die Leute gehen zurück zur Kreuzung. Dort ist ein Gasthof, und es
gibt Kaffee und was zu essen. Wir haben beschlossen, drinnen im Warmen zu
warten, bis die Feuerwehr kommt und die Straße räumt.« Er schenkte ihr ein
Lächeln. »Kommen Sie doch mit. Das ist viel netter, als im kalten Wagen zu
warten.«
Dann drehte er sich um und stapfte weiter. Heike blickte sich um.
Weiter unten auf der Straße wendeten umständlich Autos und fuhren zurück in
Richtung Münster. Sollte sie es ihnen gleichtun? Sie erinnerte sich an das
Lächeln des fremden Mannes.
Ach was!, dachte sie dann. Warum sollte ich umkehren? Es geht ja
gleich weiter. Da kann ich auch solange unten im Gasthof warten.
Sie schloss ihren Wagen ab, setzte sich in Bewegung und folgte dem
Tross durch das Schneegestöber. Als sie den Gasthof als eine der Letzten
erreichte, war sie völlig durchgeweicht und ausgekühlt. Im Spiegelbild der
Fensterscheibe sah sie einen Schneemann. Sie klopfte sich das weiße Kleid von
Jacke und Kapuze und betrat den Gasthof.
Der dämmrige Schankraum war voller Menschen. An der Theke stand eine
Traube von Reisenden, die lautstark diskutierten, wie lange sie noch auf das
Eintreffen der Feuerwehr würden warten müssen. Die schwülwarme Luft war von
Kaffeeduft geschwängert, und sie spürte, wie die Wärme langsam zurück in ihre
Knochen kroch. Sie sah sich um, konnte den attraktiven Mann aber nirgends
entdecken. Enttäuscht ging sie zur Theke, um sich einen Kaffee zu bestellen.
Der Wirt hatte Mühe, die Bestellungen entgegenzunehmen, er hatte mit
diesem plötzlichen Ansturm wohl nicht gerechnet. Als sie ihren Kaffee endlich
ergattert hatte, entdeckte sie den Mann an einem kleinen Ecktisch in der Nähe
des Tresens.
Er winkte ihr zu. »Setzen Sie sich doch. Hier ist noch ein Platz
frei.«
»Danke. Sehr gern.« Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
»Wer weiß, wann es dort oben weitergeht«, sagte er. »Zum Glück habe
ich es nicht eilig. Ich bin auf dem Weg in die Niederlande, um einen Freund in
Amsterdam zu besuchen. Und Sie? Sind Sie beruflich unterwegs?«
»Ja, ich bin …«
»Sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten. Sie sind eine Art
Managerin, vermute ich. Aber nicht bei einer Bank oder so was. Nein, es muss etwas
Cooleres sein. Sie organisieren Events oder Konzerte. Das muss es sein. Habe
ich recht?«
»Ich bin Polizistin.«
Wie erwartet machte er ein erschrockenes Gesicht. Heike musste ein
Lachen unterdrücken. Es war immer das Gleiche, die meisten Männer bekamen zunächst
einmal Angst, wenn sie erfuhren, dass eine Frau bei der Polizei arbeitete.
»Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich trage keine Waffe, Sie haben
also nichts zu befürchten.«
Er wollte etwas erwidern, doch da klingelte das Handy in ihrer
Handtasche. Sie entschuldigte sich, zog es hervor und wandte ihm den Rücken zu.
Es war Guido Gratczek, er rief aus Münster an.
»Was gibt’s?«, fragte sie.
»Hambrock hat angerufen. Er will vorerst in Birkenkotten bleiben. Er
sagt, der Schneefall wird immer schlimmer. Du sollst besser nicht zu ihm
hinausfahren. Er will nicht, dass du stecken bleibst.«
»Das ist längst passiert. Der Schöppinger Berg ist dicht. Ein Bus
blockiert die Fahrbahn.«
»Auch das noch. Wenn du mich fragst, spielt das Wetter zu einem
denkbar ungünstigen Zeitpunkt verrückt. Martin Probst ist heute in Birkenkotten
aufgetaucht. Und hier in Münster gibt es auch Neuigkeiten. Tilmann Feth ist
seit gestern spurlos verschwunden. Ich will ihn gerade zur Fahndung
ausschreiben lassen.«
»Tilmann Feth? Wer soll das sein?«
Nach ihrer Magen-Darm-Geschichte war sie offenbar noch nicht auf dem
neuesten Stand.
»Der Freund von Sandra Hahnenkamp. Er ist abgetaucht, nachdem wir
erfahren haben, dass Sandra kurz vor ihrem Tod die Beziehung zu ihm beendet
hat.«
»Das wird ja immer besser. Aber mach dir keine Gedanken. Wenn die
Guten im Schnee stecken bleiben, dann tun das die Bösen auch. Noch ist nichts
entschieden.«
Sie beendete das Gespräch und drehte sich wieder um. Zu ihrer
Überraschung saß sie allein am Tisch. Sie blickte sich im Schankraum um, doch
es fehlte jede Spur von ihrem Verehrer.
Verwirrt steckte sie das Handy zurück in die Handtasche. Am
Nebentisch saß eine mollige blonde Frau mit einer
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