Schneetreiben
fühlte, in Birkenkotten zu sein.
Der Fahrer hielt am Straßenrand. Tilmann zog die Kapuze seiner Jacke
über den Kopf und öffnete die Tür.
»Alles Gute«, sagte der Fremde.
»Vielen Dank noch mal. Kommen Sie gut nach Hause.«
Er sprang hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Dann machte er
sich auf den Weg zu dem Bauernhof, der knapp hundert Meter abseits der Straße
lag.
Zwischen den Stallungen und dem Wohnhaus blieb er stehen. Es war
nirgendwo jemand zu sehen, alles war still. Hinter einigen Fenstern brannte
Licht, doch die Haustür lag im Dunkeln. Sollte er an der Tür klingeln?
Wahrscheinlich war das keine gute Idee. Doch was konnte er sonst tun?
Plötzlich öffnete sich eine der Stalltüren, und sein Freund stand
vor ihm, in Arbeitskleidung und mit einem Eimer in der Hand. Als er Tilmann auf
dem Hof entdeckte, hätte er den Eimer beinahe fallen lassen. Hastig zog er ihn
hinter eine Stallwand, damit er vom Haus aus nicht gesehen werden konnte.
»Was machst du hier?«, fuhr er ihn an.
»Die Polizei ist hinter mir her. Ich wollte abhauen, aber mein Auto
ist im Schnee stecken geblieben. Du musst mich ein paar Tage hier verstecken.
Bis ich weiterfahren kann.«
»Bist du wahnsinnig? Wie stellst du dir das vor? Was soll ich denn
meinen Eltern sagen?«
»Bitte! Du musst mir helfen!«
Sein Freund strich sich nervös durch die Haare. »Ich habe jetzt
keine Zeit. Es treffen sich gleich alle bei Jens Burtrup, ich muss nur noch
schnell die Schweine füttern. Das fällt auf, wenn ich nicht komme. Außerdem
weiß ich auch nicht, wie ich dir …« Er
stockte. »Moment mal! Ich hab da eine Idee. Hier kannst du nicht bleiben, aber
ich weiß einen Ort, wo du dich verstecken kannst. Solange das Wetter verrückt
spielt, wird sich keine Menschenseele dorthin verirren.« Sein Gesicht hellte
sich auf. »Es ist perfekt.«
»Was ist das für ein Versteck?«, fragte Tilmann.
»Das Vereinshaus des Fußballclubs. Ich weiß, wo der Schlüssel
liegt.«
11
Ingeborg stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und
blickte in die fortschreitende Dämmerung hinaus.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte sie. »Mir wäre es
lieber, Klara würde hier bleiben.«
Hambrock saß am Küchentisch und betrachtete sie.
»Aber sie ist doch nicht allein«, sagte er. »Was soll denn schon
passieren?«
»Ich weiß auch nicht. Ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei.«
Es war ein DVD-Abend
geplant, der bei Jens Burtrup stattfinden sollte. Eine Handvoll junger Leute
hatte sich verabredet, und Klara war ebenfalls eingeladen. Das Wetter war ideal
für einen gemütlichen Abend mit reichlich Glühwein und spannenden Filmen.
»Die Abwechslung wird ihr guttun«, sagte Hambrock. »Das bringt sie
auf andere Gedanken.«
Ingeborg deutete auf die Scheinwerfer eines großen Traktors, der
sich durch das Schneetreiben zu ihnen hinaufkämpfte.
»Das wird Jens sein«, sagte sie und ging zur Küchentür. »Ich werde
Klara Bescheid geben, dass sie abgeholt wird.«
Ingeborg verschwand in der Diele, und kurz darauf trat Jens zu
Hambrock in die Küche. Er kam aus der Waschküche, wo er sich die Stiefel
ausgezogen hatte. Auf Wollsocken ging er zum Tisch und gab ihm höflich die Hand.
»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«, fragte der Kommissar. »Es
ist ganz frischer in der Kanne.«
»Nein, danke. Wir werden sofort losfahren.« Er zögerte. »Wie geht es
Klara?«
»Den ersten Schock hat sie einigermaßen überwunden. Aber das Ganze
ist ihr ziemlich an die Nieren gegangen. Keiner von uns hat Martin Probst
kommen sehen.«
»Ist er denn inzwischen gefasst worden?«
»Nein. Das Wetter ist leider nicht auf unserer Seite. Die
Einsatzkräfte kamen kaum vom Fleck, und seine Spuren waren innerhalb von Minuten
im Neuschnee verschwunden.«
Jens machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen«, meinte Hambrock.
»Schon gut. Sie können ja nichts dafür.«
Ingeborg kam in die Küche. »Hallo, Jens«, sagte sie. »Klara ist
oben, sie ist gleich fertig. Du kannst zu ihr hochgehen.«
»Danke, Frau Merschkötter.«
Er war bereits in der Tür, als Ingeborg ihm die Hand auf die
Schulter legte.
»Jens!«
»Ja, Frau Merschkötter?«
»Pass auf sie auf, ja?«
»Natürlich.« Er lächelte unbeholfen und zog dann die Tür hinter sich
zu.
Ingeborg setzte sich mit einem leisen Seufzer zu Hambrock an den
Tisch. Zerstreut griff sie nach seiner Kaffeetasse und nahm einen tiefen
Schluck. Dann trommelte sie mit den
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