Schneetreiben
zum
Wohnzimmerfenster. Das Auto der Polizisten stand unverändert in der Auffahrt.
»Du meine Güte, Junge! Wo bist du?«
»Ich …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, und sie bereute die Frage
sofort.
»Wie geht es dir?«, fragte sie stattdessen. »Ich mache mir
schreckliche Sorgen.«
Seine Stimme war erstickt. »Das tut mir leid. Ich wollte das alles
nicht. Du musst mir glauben, ich wollte das wirklich nicht.«
»Aber das weiß ich doch. Denk nicht darüber nach. Was geschehen ist,
ist geschehen. Wir müssen jetzt sehen, wie es weitergeht. Alle suchen dich, die
Polizei hat ein großes Aufgebot …«
Plötzlich fragte sie sich, ob er überhaupt von Sandras Tod wusste. Schließlich
hielt er sich versteckt und hatte vielleicht gar nicht erfahren, was geschehen
war.
»Es ist … jemand umgekommen. Jemand ist gestorben.
Die Polizei …«
»Ich war das nicht, Mama! Wirklich nicht! Ich habe nichts damit zu
tun! Ich mochte Sandra doch.«
Er wusste also Bescheid.
»Ich weiß, dass du nichts damit zu tun hast. Aber durch deinen
Ausbruch und das Auftauchen hier halten dich alle für den Täter. Verstehst du?
Die Polizei verdächtigt dich, weil du früher anderen Frauen wehgetan hast.«
Ihr Blick fiel auf den Spiegel über dem Telefontisch. Und was ist
mit dir? Gibt es in dir nicht auch einen leisen Verdacht?
»Ich war es nicht! Bitte! Die hängen mir das an!«
»Du musst mit ihnen reden, hörst du? Das ist der einzige Weg. Du
musst ihnen sagen, was du zum Zeitpunkt des Mordes gemacht hast. Solange du
dich vor ihnen versteckst, denken sie, es ist ein Schuldeingeständnis.«
»Das kann ich nicht, Mama. Ich geh nicht zu denen!«
Seine Stimme klang so verzweifelt, dass es ihr einen Stich
versetzte. »Junge, bitte …«
»Die werden denken, dass ich der Mörder bin, ganz egal, was ich
denen sage. Sandra ist vergewaltigt worden. Sie hatte fast nur noch ihren
Mantel an, als sie in den Wassergraben geworfen wurde. Das sieht alles nach
einer Sexualstraftat aus. Keiner wird glauben, dass ich unschuldig bin.«
Woher kennt er diese Details? Er weiß mehr über Sandras Tod als ich.
Hat er das aus der Zeitung?
»Martin, bitte! Du machst es nur noch schlimmer! Du musst dich
stellen.«
»Nein!«, rief er wütend, doch dann beruhigte er sich wieder. »Ich
kann nicht.«
Dorothea Probst verstand. Sie würde es später noch mal versuchen,
aber im Augenblick war es besser zu schweigen. Sie wechselte das Thema. »Was
ist eigentlich in Brandenburg passiert? Wieso bist du überhaupt ausgebrochen?«
»Ich hab es versaut, Mama.« Seine Stimme klang elend. »Ich habe
wieder einmal alles versaut. Ich wollte doch gar nicht fliehen, das war
überhaupt nicht geplant. Doch als mein Betreuer mich alleine aufs Klo gelassen
hat, da war da plötzlich diese Chance. Es war, als hätte mir jemand ein großes
Stück Torte vor die Nase gehalten. Ich musste einfach zugreifen. Ich habe kein
bisschen nachgedacht.«
Sie spürte tiefes Mitgefühl für ihren Sohn. Sein Therapeut war doch
so zufrieden mit ihm gewesen. Man hatte ihm eine günstige Prognose gestellt.
Sogar über Haftverkürzung war nachgedacht worden. Und nun das.
»Dabei wollte ich doch dieses Mal alles richtig machen«, sagte er.
»Ich wollte allen beweisen, dass ich mich ändern kann. Dass ich ein besserer
Mensch werde.«
»Das weiß ich, mein Junge. Aber das kannst du ihnen immer noch
beweisen. Dafür ist es nicht zu spät, verstehst du? Dafür ist es nie zu spät.
Du kannst immer an dir arbeiten, ganz egal, was passiert ist.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Sie fragte sich, was sie sagen
konnte, um ihm Hoffnung zu geben, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Es war
das Grunzen eines Schweins, kurz drauf schlugen Metallstangen aneinander.
Da wusste sie plötzlich, wo Martin war. Es war ganz einfach. Sie
wunderte sich, dass sie nicht schon eher darauf gekommen war.
»Ich war heute bei Klara«, sagte Martin.
»Wie bitte?«
»Ich war bei Klara. Ich war bei ihr. Ich wollte mit ihr reden.
Wollte mich entschuldigen für das, was ich getan habe.«
»Aber Junge! Du kannst doch nicht … du liebe Güte …«
»Ich wollte mich nur entschuldigen. Ich hab in ihrem Zimmer auf sie
gewartet, doch sie hat nicht mit mir geredet, sie hat nur geschrien.«
»Mein Gott, Martin! Denk nach, bevor du handelst! Du kannst doch
nicht einfach bei ihr aufkreuzen. Du musst sie zu Tode erschreckt haben!«
»Aber ich wollte nur …«
»Jetzt versuch dich mal in ihre Lage zu versetzen.
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