Schneetreiben
Sie hat Angst vor
dir, und du tauchst einfach in ihrem Zimmer auf. Unangemeldet. Sie muss einen
riesigen Schreck bekommen haben.«
Doch es war vergeblich. Sie redete und redete, aber Martin konnte
nicht verstehen, was falsch daran war, sich bei jemandem entschuldigen zu
wollen. Im Gegenteil, er wurde wütend.
Es hat keinen Zweck, am Telefon zu reden, dachte sie. Ich muss ihn
sehen. Nur dann besteht eine Chance, ihn zu überzeugen.
Sie rang ihm das Versprechen ab, möglichst bald wieder anzurufen.
Dann legte sie auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Das Unwetter tobte
unvermindert, und das Auto der Polizisten versank langsam im Schnee. Auch wenn
sie nun wusste, wo Martin sich befand, gab es keine Möglichkeit, zu ihm zu
gelangen. Sicher würde man ihr folgen, wenn sie das Haus verließ.
Ihr war klar, was sie nun tun musste: Kommissar Hambrock anrufen und
ihm sagen, wo Martin sich versteckt hielt. Es war das einzig Richtige.
Du musst es tun. Für Martin.
Schweren Herzens drehte sie sich um und ging zum Telefon. Dabei fiel
ihr Blick wieder auf das Polizeiauto. Sie betrachtete die Silhouetten der
Beamten im dunklen Wageninneren. Was, wenn Martin recht hatte und die Polizei
ihn längst vorverurteilt hatte? Wenn sie nach keinem Mörder mehr suchen würden,
weil sie ja Martin hatten? Wirst du es wirklich übers Herz bringen, ihn
auszuliefern?, dachte sie.
Dann traf sie eine Entscheidung. Sie würde vorerst damit warten, die
Polizei zu verständigen. Bestimmt gab es noch einen anderen Weg, wie sie zu
ihrem Sohn gelangen konnte. Und dann würde alles gut werden.
10
Heike Holthausen hatte direkt nach dem Frühstück nach
Birkenkotten fahren wollen, doch dann stand den ganzen Vormittag über im
Präsidium das Telefon nicht still, und sie war stattdessen bei der Abarbeitung
der Hinweise aus der Bevölkerung eingesprungen.
Die meisten eingehenden Hinweise waren nicht besonders hilfreich,
sie bedeuteten nur einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Da meldeten sich Irre
und Denunzianten mit den absurdesten Geschichten. Doch als am späten Vormittag
eine Rentnerin aus Legden anrief, die behauptete, während der Tatnacht in
Birkenkotten eine Beobachtung gemacht zu haben, horchte Heike auf. Die Frau
sagte, sie sei mit dem Wagen durch die Bauernschaft gefahren und habe ein
parkendes Auto am Straßenrand gesehen, unweit der Haltestelle Birkenkotten. Sie
habe geglaubt, dass der Wagen zu der Geburtstagsparty gehöre, und sich
geärgert, dass er direkt an der Hauptstraße stand, wo er doch ein Unfallrisiko
bildete.
»Man hätte ihn genauso gut auf dem Hof abstellen können. Wie alle
anderen auch.«
»Können Sie sich erinnern, was das für ein Wagen war?«, fragte
Heike.
»Natürlich. Es war ein Seat Ibiza. Baujahr zweiundneunzig, schätze
ich mal.«
Heike stutzte. Der Stimme nach hatte sie ein altes Hausmütterchen am
anderen Ende vermutet. In ihrer Phantasie trug die Zeugin eine Kittelschürze
und hatte Lockenwickler im Haar.
»Sie kennen sich mit Autos aus?«
»O ja, sehr gut.« Die Frau schien verlegen. »Sie müssen wissen, ich
arbeite seit einigen Jahren nebenher für ein Marktforschungsinstitut und muss
Autofahrer der unterschiedlichsten Marken und Modelle zu ihrem Kaufverhalten
befragen. So bessere ich meine Rente auf, klein genug ist sie ja. Glauben Sie
mir, es war ein Seat Ibiza.«
Heike war immer noch völlig verblüfft. »Und selbst das Baujahr
können Sie bestimmen?«
»Nun, da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich würde sagen, es war ein
Zweiundneunziger, aber so genau habe ich nicht darauf geachtet. Ich konnte ja
nicht ahnen, dass das mal jemanden interessiert. Vielleicht hilft es Ihnen
weiter, dass er anscheinend rot lackiert war und etliche Beulen hatte. Der
linke Kotflügel war ausgetauscht worden und hatte eine andere Farbe, er war
schwarz.«
»Können Sie sich auch an das Nummernschild erinnern?«
»O nein.« Ein brüchiges Lachen ertönte. »Ich kann mir einfach keine
Zahlen merken. Zahlen machen mich ganz nervös. Das Gedächtnis lässt nach,
wissen Sie?« Dann fügte sie mit fester Stimme hinzu: »Aber es war ein Ibiza. Da
besteht kein Zweifel.«
Heike beschloss, auf dem Weg nach Birkenkotten eine Schleife über
Legden zu drehen und die Aussage der Rentnerin ausführlich aufzunehmen.
Kurz nach der Mittagspause schaffte sie es endlich, sich auf den Weg
zu machen. Sie ging zum Fuhrpark und bemerkte, dass es zu schneien begonnen
hatte. Die Flocken schmolzen jedoch, sobald sie den Boden berührten. Nur
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