Schneetreiben
Fingern auf die Tischplatte und sah nervös
zum Fenster.
»Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag?«, fragte
sie.
Hambrock musste lachen. »Es wird schon nichts passieren. Sie ist bei
Burtrup gut aufgehoben.«
»Du hast ja recht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Diese
Aufregung macht mich ganz durcheinander.«
»Wie wäre es mit einem Kartenspiel?«, fragte er. »Solange wir hier
festsitzen, können wir doch …«
Plötzlich begann das Licht zu flackern, dann verlosch es, und
sekundenlang war die Küche ins Zwielicht der Dämmerung getaucht. Danach brannte
es wieder auf, als wäre nichts gewesen. Die Digitaluhr an der Mikrowelle
piepte, und auf dem Zifferblatt blinkte eine Reihe von Nullen.
»Was war denn das?«, fragte Ingeborg.
»Der Strom war kurz weg. Hoffen wir, dass nichts passiert ist. Ein
Stromausfall wäre das Letzte, was wir gebrauchen könnten.«
»Es wird schon gutgehen. Das Licht brennt ja wieder.«
Sie stand auf. »Am besten hole ich mal die Karten. Kannst du Rommé
spielen?«
»Rommé?« Hambrock lachte. »Ehrlich gesagt bin ich besser im Pokern.
Aber wenn du mir die Regeln erklärst?«
Oben in ihrem Zimmer saß Klara auf der Bettkante und
starrte ins Nichts. Sie hatte sich oft überlegt, wie es wäre, Martin wieder zu
begegnen. Da war ein Teil in ihr, der sich fest vorgenommen hatte, keine Angst
vor ihm zu haben. Der bereit war, ihn zu töten, wenn er noch mal versuchen
sollte, sich ihr zu nähern. Dieser Teil glaubte, dass ihr Wille stärker sei als
sein Hass und dass es möglich wäre, ihm überlegen zu sein.
Doch als er dann plötzlich vor ihr stand, in ihrem eigenen Zimmer,
da war alles anders gewesen. Allein durch seine Anwesenheit hatte er sie in die
Knie gezwungen. Er brauchte nichts zu tun, auch nichts zu sagen. Es ging so
viel Macht von ihm aus, dass seine bloße Existenz sie zu Boden drückte.
Sie würde sich niemals wehren können.
Hinter ihr klopfte es an der Tür. Sie sah auf.
»Klara? Bist du da?« Es war Jens.
»Komm herein.«
Die Tür öffnete sich, und Jens steckte seinen Kopf durch den Spalt.
Er blickte sie unsicher an und schien erst ihre Reaktion abwarten zu wollen,
bevor er das Zimmer betrat. Er wartete, ob sie ihn vielleicht wegjagen würde.
Eine Welle der Zuneigung erfasste sie. Ach Jens, ich bin so
ungerecht zu dir. Dabei bist du das Beste, was mir je passiert ist.
»Jens, ich …« Ihre Stimme
erstickte.
Tränen liefen plötzlich über ihre Wangen. Sie versuchte mit aller
Gewalt, dagegen anzukämpfen. Doch es war stärker. Sie konnte es nicht
aufhalten.
Jens war mit einem Mal neben ihr, er setzte sich auf die Bettkante
und legte seinen Arm um sie.
Klara hatte keine Kraft mehr. Alle Mauern um sie herum stürzten ein.
Das Schluchzen brach tief aus ihrem Innern hervor und riss alles mit sich. Sie
klammerte sich an Jens wie eine Ertrinkende. Und dann floss alles aus ihr
heraus. Die Wut, die Angst, die Trauer und die Verzweiflung. Sie hatte das
Gefühl, als könne sie nie wieder aufhören zu weinen.
Im vergangenen Sommer, kurz bevor die Gerste gedroschen
wurde, hatte es eine ungewöhnlich laue Nacht gegeben, in der die beiden mit dem
Fahrrad von einer Party nach Hause gefahren waren. Klara hatte auf der Stange
gesessen, und Jens, dessen warmer und duftender Körper dicht über ihr gewesen
war, lenkte sie über die Feldwege. Die Luft roch nach frischem Heu und
Sommerblumen, und in den Hecken zirpten überall die Grillen.
Sie machten Witze und lachten, Klaras Gedanken waren ganz leicht von
dem Kirschlikör, den sie getrunken hatte. Sie warf den Kopf in den Nacken und
betrachtete den Sternenhimmel, der in dieser Nacht voller Sternschnuppen war.
Irgendwann hielt Jens am Wegesrand und ließ Klara absteigen. Er
lehnte das Fahrrad an den Zaun einer Kuhwiese, dann sprang er über das Gatter
und lief los.
»Komm mit! Hinter der Wiese ist der Baggersee!«
Er zerrte sich im Laufen das T-Shirt über den Kopf und warf es einfach fort, dann
zog er humpelnd Schuhe und Hose aus. Bald lag seine gesamte Kleidung auf der
Wiese verstreut.
»Jetzt komm schon! Wir gehen schwimmen!«
»Jens, warte! Hör auf damit!«
Klara hielt es für keine gute Idee. Sie hatten getrunken, Jens sogar
ziemlich viel, und da war es doch viel zu gefährlich, schwimmen zu gehen.
»Du wirst noch ertrinken!«, rief sie.
»So ein Quatsch! Das mache ich immer, wenn ich nachts hier
vorbeikomme!« Seine Stimme schallte über die nächtliche Wiese. »Komm schon! Das
ist
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