Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
Vom Netzwerk:
mit dem Messer gegen den Balken. Die Situation war
beinahe unwirklich. So lange hatte sie darauf gewartet. Sie musste nur noch
seine Kehle aufschneiden, dann wäre sie für immer von ihm befreit.
    Er blinzelte gegen das grelle Licht der Taschenlampe. Sie zögerte.
Sollte sie ihn wirklich töten? Er war so hilflos, dass es geradezu lächerlich
war.
    Sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
    »Wieso ich?«
    Er erschrak. »Klara? Bist du das etwa?«
    »Warum hast du mich ausgesucht? Was unterscheidet mich von den
anderen?«
    Er kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, gegen das
Licht zu blicken.
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    Sie konnte ihn zertreten, wenn sie wollte. Es ging keine Macht mehr
von ihm aus.
    »Was willst du von mir?«, fragte sie.
    »Nichts.«
    Sie drückte die Klinge in das weiche Fleisch. Nur ganz sacht. Er
wimmerte. Blut sammelte sich an der Klinge und rann herunter.
    »Ich will nichts von dir. Wirklich nicht.«
    »Du warst in meinem Zimmer«, sagte sie. »Du wolltest mich dort
erwischen. Und das mit dem Anruf von Sandras Handy, das warst du doch auch,
oder? Willst du dich rächen, weil ich zur Polizei gegangen bin? Ist es das?«
    »Ich …« Er presste seinen
Hinterkopf an den Balken, um der Klinge zu entgehen. »Ich wollte mit dir
reden.«
    »Mit mir reden?«
    »Ich wollte mich entschuldigen.«
    »Was?«
    »Es war nicht richtig, was ich getan habe. Ich weiß das jetzt. Und
es tut mir leid.«
    Sie war so überrascht, dass sie die Klinge sinken ließ. Er
schluckte. Einen Moment lang wäre es ihm möglich gewesen, ihr das Messer aus
der Hand zu schlagen, doch er blieb stehen und rührte sich nicht.
    »Es tut dir leid?«
    »Ja. Ich habe dir wehgetan. Das wollte ich nicht.«
    Er sah aus wie ein kleiner Junge, der sie versehentlich vom Fahrrad
gestoßen hatte. Die Erinnerung kam so plötzlich, dass sie sich nicht dagegen
wehren konnte. Er lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr, im Gesicht das feiste
Grinsen, und sie – sie war missbraucht, beschmutzt und zerstört. »Wenn du etwas
sagst, komme ich wieder und werde mich rächen.« Er hatte es genossen, ihr
jegliche Würde zu nehmen.
    Ihre Hand begann zu zittern. Die blutige Klinke blitzte im Licht der
Taschenlampe.
    Töte ihn. Töte ihn jetzt.
    »Wie kommst du auf die Idee, dass eine Entschuldigung irgendetwas
ändern könnte?«
    »Ich hab doch meine Fehler eingesehen«, sagte er. »Ich bin jetzt ein
anderer Mensch.«
    Eine Pause entstand. Sie antwortete: »Ich wünsche dir nichts als den
Tod.«
    In seinem Blick lag Erschrecken. Aber nicht nur das. Er war
verletzt. Ihre Worte hatten die Macht, ihn zu verletzen. Sie konnte es kaum
glauben.
    »Es tut mir doch leid«, flüsterte er.
    Plötzlich wurde mit einem lauten Knall die Luke aufgestoßen. Die
Holzplatte schlug donnernd auf die Dielen. Die grellen Lichtkegel zweier Taschenlampen
irrten durch den Dachstuhl. Männer sprangen auf den Holzboden.
    Klara war eine Sekunde lang abgelenkt, Martin schlüpfte unter dem
Messer weg und glitt in die Dunkelheit ab.
    Die Männer riefen: »Stehen bleiben! Polizei!«
    Sie achtete nicht darauf. Sie folgte Martin in die Dachschräge,
leuchtete ihm hinterher, doch er war nirgends mehr zu sehen.
    »Lassen Sie das Messer fallen!«
    Sie reagierte nicht. Er musste doch hier irgendwo sein.
    Ein Warnschuss fiel.
    »Messer fallen lassen!«
    Es hatte keinen Zweck. Sie warf das Messer auf den Boden und wandte
sich zu den Polizisten um.
    »Er klettert an der Wand herunter. Beeilen Sie sich!«
    Die Männer waren völlig perplex. Sie hatten wohl nicht damit
gerechnet, eine Frau hier anzutreffen.
    »Schnell!«, schrie sie. »Er entkommt!«

18
    »Was denkt sich dieses Mädchen nur dabei?«, fragte der
Observationsbeamte. »Das ist doch lebensmüde. Völliger Wahnsinn.«
    Hambrock antwortete nicht. Er hatte noch immer nicht verdaut, dass
Martin Probst die ganze Zeit über in Burtrups Scheune gewesen war – direkt vor
ihren Augen.
    »Wie kann sie da nur alleine hochgehen, wenn sie dort oben ihren
Vergewaltiger vermutet? Der dazu noch ein mutmaßlicher Mörder ist.«
    Hambrock betrachtete den Observationsbeamten, der ihm am Küchentisch
gegenüber saß, ein dicker Mann in den Fünfzigern, dessen Schnauzer dringend
gestutzt werden musste. Er konnte seine Aufregung gut verstehen.
    »Schon gut«, sagte Hambrock. »Ich werde morgen mit ihr sprechen.
Glücklicherweise ist ja nichts passiert. Wir sollten uns jetzt lieber um Martin
Probst kümmern.«
    Der Dicke gab sich damit nicht

Weitere Kostenlose Bücher