Schneetreiben
nicht wissen, was ich meine, können
wir auch damit beginnen, dass Sie mir zunächst einmal dieses Verhalten
erklären.«
Sie senkte ihren Kopf. Er ließ sie nicht aus den Augen. Nach einer
Weile gab sie einen resignierten Laut von sich.
»Ich kann nicht mehr«, sagte sie leise.
Dann hob sie den Kopf, und ein entschlossener Ausdruck trat in ihr
abgekämpftes Gesicht. Offenbar hatte sie eine Entscheidung getroffen.
»Ich bin schuld an Sandras Tod«, sagte sie.
Gratczek stutzte. Das war allerdings eine Überraschung.
»Inwiefern sind Sie schuld an ihrem Tod?«
»Ich habe sie betrogen, das heißt, wir haben sie betrogen. Deswegen
ist sie nach Birkenkotten gefahren. Ursprünglich hatte sie das gar nicht vor.«
»Wen meinen Sie mit ›wir‹?«
Sie sah ihn an, als wäre die Antwort augenscheinlich.
»Na, Tilmann und ich.«
Das ist ja mal interessant, dachte er.
»Könnten Sie das bitte näher erläutern?«
»Nun ja … Tilmann und ich hatten …« Sie rang mit einer Formulierung. »… wir waren intim miteinander.« Dabei
vermied sie es, ihn anzusehen. »Es war nur ein einziges Mal. Wir haben an dem
Abend zusammen in der Disko gearbeitet. Nach Feierabend sind wir noch in eine
Bar gegangen und haben richtig viel getrunken. Schließlich sind wir in seiner Wohnung
gelandet.« Sie atmete tief durch. »Ich fand ihn schon immer toll. Aber … ich
wollte doch Sandra nicht betrügen. Tilmann meinte, wir bräuchten keinem davon
zu erzählen, es könnte unser Geheimnis bleiben. Er sagte: Wir wissen
schließlich beide, dass es nichts bedeutet hat.«
Nun wagte sie es aufzusehen. Ganz offenbar schämte sie sich.
»Aber das konnte ich nicht«, sagte sie. »Ich konnte nicht mit Sandra
unter einem Dach leben, mit ihr kochen, fernsehen und Kaffee trinken und dabei
so tun, als wäre nichts. Schließlich hatte ich sie betrogen, ich hatte ihr
Vertrauen missbraucht. Das konnte ich nicht für mich behalten. Ich hab es nicht
ausgehalten. Also bin ich zu ihr gegangen.« Sie schluckte. »Natürlich ist sie
ausgeflippt. Aber das war ja auch verständlich. Sie wollte nichts mehr mit mir
zu tun haben. Sie hat mir eine Frist von zwei Monaten gegeben, um mir eine
andere WG zu suchen. Tja,
und dann hat sie mit Tilmann Schluss gemacht. Er hat mich dafür gehasst, doch
was sollte ich denn machen? Es war mir unmöglich, zu lügen.«
»Was passierte dann?«
»Zu Hause herrschte eine schreckliche Stimmung. Wir sind uns aus dem
Weg gegangen, doch in der kleinen Wohnung ist das gar nicht so einfach. Das war
auch der Grund, weshalb sie nach Birkenkotten gefahren ist. Sie hatte gar keine
Lust auf diese Landjugendparty, aber meinetwegen ist sie dorthin. Sie wollte
mich nicht sehen, und dann wollte sie wohl auch zu ihren alten Freundinnen.
Menschen, die sie nicht enttäuscht hatten.« Sie zog die Nase hoch. »Es ist
einfach passiert«, sagte sie mit einem Unterton, der um Verständnis bettelte.
»Wir waren betrunken. Sonst hätte ich niemals … Ich wollte Sandra nicht betrügen. Wir waren schließlich Freundinnen.«
Doch Gratczek war mit seinen Gedanken bereits woanders. Gerade noch
hatte Tilmann Feth volle Kooperation mit der Polizei zugesichert, und nun wurde
schon wieder eine seiner Lügengeschichten entlarvt.
»Wie hat Tilmann auf die Trennung reagiert?«, fragte er.
»Gar nicht gut. Es ging ihm ziemlich dreckig. Er hat gesagt, dass er
alles tun würde, um sie zurückzugewinnen. Er hat das überhaupt nicht
akzeptiert. Ganz im Gegenteil, für ihn war das letzte Wort noch nicht
gesprochen.«
»Das letzte Wort noch nicht gesprochen … War das seine Formulierung?«
»Ja. Aber wie gesagt, er war total fertig. Außerdem …«
Das Telefon klingelte, und Miriam Voss zuckte zusammen.
Nicht jetzt!, dachte Gratczek wütend. Doch es war zu spät, das
Gespräch war bereits unterbrochen, seine Zeugin nagte abwesend an den
Fingernägeln.
Na toll!, dachte er.
Auf dem Display leuchtete: Nummer unbekannt. Er zögerte. Wo seine
Befragung schon versaut war, konnte er auch kurz rangehen und herausfinden, wer
es war.
»Einen Moment bitte«, sagte er und nahm den Hörer ab. »Gratczek.«
»Guten Tag, mein Name ist Axel Mühlbeck. Ich hoffe, ich störe
nicht.«
Gratczek lächelte müde. »Worum geht es denn?«
»Ich habe Ihre Nummer von der Polizeiwache in Ahaus. Ich spreche
doch mit jemandem von der Mordkommission, nicht wahr? Also, ich habe hier
zufällig ein Fahndungsfoto gesehen und bemerkt, dass ich den Typen darauf
kenne. Ich habe ihn als
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