Schneetreiben
weit ist es
ja auch gar nicht. In einer guten Stunde bin ich zu Hause.«
Klara lächelte entschlossen. Zum Glück wusste diese Frau nicht, dass
sie den entflohenen Sexualstraftäter, von dem alle sprachen, nicht nur
persönlich kannte, sondern auch eines seiner Opfer war. Dann hätte sie Klara
wohl kaum so einfach gehen lassen.
»Ich brauche ein bisschen frische Luft, um nachdenken zu können«,
sagte sie und machte damit eine Andeutung auf ihren Streit mit Jens. »Deshalb
würde ich wirklich gerne laufen.«
Es schien zu funktionieren.
»Also gut. Wenn du meinst …«
»Vielen Dank für die Einladung zum Essen. Das war sehr nett von
Ihnen. Aber jetzt muss ich mich beeilen.«
Sie verabschiedete sich von Anni und Lino, schnürte ihre Skijacke zu
und machte sich auf den Weg.
Nach der heißen Dusche und dem guten Essen zeigte sich die
Winterlandschaft wieder von ihrer schönen Seite. Klara genoss es, die kalte
Luft einzuatmen und den umherwirbelnden Schneeflocken zuzusehen.
Auf dem Weg zum Ortsausgang ging sie über den Düvingdyk, der sie am
Eichenhof vorbeiführte. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie Jens’ Traktor am
Straßenrand neben dem Gasthof. Er war also nicht nach Hause gefahren, sondern
in die nächste Kneipe.
Sie fragte sich, ob sie hineingehen und mit ihm reden sollte. Vielleicht
würde es ihr gelingen, die Wogen ein wenig zu glätten, und dann könnten sie
gemeinsam nach Hause fahren.
Doch im Grunde wollte sie das gar nicht. Sie wollte die klare Luft
atmen und über die einsamen schneebedeckten Felder wandern. Ganz allein.
Sie entschied, Jens sich selbst zu überlassen. Sie würden später
immer noch genügend Zeit haben, herumzustreiten.
So ist es gut, dachte sie. Lass einfach alles hinter dir.
Sie kehrte der Kneipe den Rücken und ging die Straße hinunter, die
aufs Land und weiter nach Birkenkotten führte.
22
An diesem Samstag war das Polizeipräsidium in Münster
völlig verwaist. Auf den Fluren war niemand unterwegs, die Deckenlichter waren
ausgeschaltet, und durch die Fenster drang nur fahles graues Winterlicht. Am
Wochenende war für gewöhnlich wenig Betrieb, doch an diesem Samstag herrschte
eine besondere Stimmung. Der graue Himmel und der eingeschneite Parkplatz
konnten die Idee erwecken, die Verbrecher würden Winterschlaf machen, und die
Polizei hätte sich ihnen angeschlossen.
Guido Gratczek mochte es, wenn kaum jemand im Haus war. Er spazierte
gemächlich zur Pforte im Erdgeschoss und genoss die ungewohnte Ruhe. Er hatte
einen Anruf vom Pförtner bekommen, seine Zeugin war eingetroffen. Sie wartete
nun darauf, dass er sie abholte und in sein Büro führte.
Als er in die Eingangshalle trat, hockte seine Besucherin auf einem
Stuhl im Wartebereich. Sie sah genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung.
Irgendwie erschöpft, auch wenn sie das mit Schroffheit und Kühle zu überspielen
versuchte.
Er nahm Haltung ein und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Guten Tag, Frau Voss! Schön, Sie zu sehen. Es freut mich, dass Sie
sich die Zeit genommen haben, vorbeizuschauen.«
Miriam Voss stand auf und reichte ihm die Hand. Ihr Händedruck war
feucht und nicht besonders kräftig.
»Ich würde gern noch einmal mit Ihnen über Ihre Mitbewohnerin
sprechen«, sagte er. »Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro.«
Gratczek lief voran. Sie nickte schicksalsergeben und trottete
hinterher. Auf dem langen Weg durch die Flure sprach er kein Wort. Als er sie
schließlich ins Büro führte und die Tür hinter sich schloss, sank sie auf den
Besucherstuhl und strich sich mit einer fahrigen Bewegung durchs Gesicht.
»Weshalb haben Sie mich hierher bestellt?«, fragte sie. »Ich habe
Ihnen doch schon alles gesagt.«
Er setzte sich ihr gegenüber, verschränkte die Arme und ließ seinen
Blick eine Weile auf ihr ruhen. Er wollte es mit einem offenen Angriff
versuchen.
»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Sie mir schon alles gesagt
haben. Ganz im Gegenteil, Frau Voss. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass Ihnen
Umstände zum Tod von Sandra Hahnenkamp bekannt sind, die Sie der Polizei
bislang verschwiegen haben.«
Sie sagte nichts darauf.
»Frau Voss? Liege ich in dieser Annahme richtig?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich will es einmal so sagen: Bislang waren Sie mir gegenüber sehr
abweisend und unfreundlich. Bedenkt man, dass ich jeden Tag Überstunden mache,
um den Mörder Ihrer Freundin zu finden, ist dieses Verhalten ein wenig
undankbar, finden Sie nicht? Wenn Sie also
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