Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
voller Wasser? Sie beißt die Zähne zusammen und zwingt sich, die Bewegungen ihrer Arme zu kontrollieren. Von wildem Herumschlagen zu gezieltem, gleichmäßigem Öffnen und Schließen. Und tatsächlich: Es gelingt ihr, den Fall ins Bodenlose abzubremsen. Ermutigt versucht sie, die Füße dazuzunehmen. Die Beine. Ihre Muskeln sind untrainiert und fühlen sich an wie aus Pudding. Aber sie kämpft. Gegen das Wasser, das von allen Seiten in sie einzudringen scheint. Gegen ihre Angst. Gegen das lähmende Gefühl in ihren Armen.
Hoch über ihr taucht der Beckenrand auf. Eine türkisfarbene Kante. Wie eine Verheißung. Mit letzter Kraft arbeitet sie sich darauf zu. Doch immer wieder verliert sie wertvolle Zentimeter, weil ihre Kräfte nachlassen. Weil sie nicht durchhält. Weil sie zu unentschlossen ist. Zu lasch. Der Gedanke macht sie wütend. Genauso wütend wie die beiden Stühle dort oben am Beckenrand.
ICH SEHE DIR BEIM STERBEN ZU …
Dieses elende Dreckschwein! Dem werd ich’s zeigen!
Noch ein, zwei Beinschläge. Dann bekommen ihre Finger die Kante zu fassen. Sie rutscht ab. Fängt sich. Gerät ins Schlingern. Greift erneut zu. Und dieses Mal gelingt es ihr, den Kopf über Wasser zu bringen. Sie hustet. Schnappt nach Luft. Könnte schreien vor Erleichterung. Und Angst. Und Wut. Mehr Luft. Literweise Luft. Nacht zum Trinken. Atmen. Atmen. Nie wieder aufhören.
Aber wo … ?
Sie wirft den zweiten entkräfteten Arm über die Kante. Versucht, sich zu orientieren. Doch erst mal sieht sie gar nichts. Das Chlor brennt in ihren Augen, in ihrer Nase, überall. Als ob man ihr von innen die Schleimhäute wegätzte.
Ist er fort?
Ich werde dir beim Sterben zusehen …
Doch der Stuhl, den er sich eigens zu diesem Zweck dort an den Beckenrand gestellt hat, sein Logenplatz, ist leer. Verwaist. Verlassen. Die Erkenntnis bohrt sich in ihre Gedanken. Das ist ihre Chance. Sie muss raus hier. Raus aus dem Wasser. Raus aus dem Garten. Nach Hause. Zu Mama.
Man hört nichts Gutes über diese Leute …
Manchmal, denkt sie beinahe verwundert, haben Mütter tatsächlich recht. Sie blinzelt die letzten Reste des Chlors aus den Augen und versucht, sich mit den Füßen irgendwo abzustützen. Die glitschigen Kacheln bieten kaum Halt, aber noch sind ihre Arme zu schwach, um die ganze Arbeit allein zu machen. Oder doch nicht?
Du musst entschlossen sein!
Ihre Muskeln rebellieren, es tut höllisch weh, aber sie schafft es tatsächlich, ihren bleischweren Körper über den Rand zu stemmen. Die Hüfte voraus. Dann Oberschenkel. Kniekehle. Der ganze Rest. Jawohl! Gut so! Sie hört das Platschen ihrer Knochen auf den Kacheln und kommt sich vor wie ein neugeborenes Fohlen. Ungelenk. Unfähig, so etwas wie Balance zu finden. Aber da. Immerhin. Erschöpft und schwer atmend lässt sie sich auf die warmen Fliesen sinken. Hoch über ihr hat der Himmel noch immer nicht einen einzigen Stern. In den Büschen ringsum raschelt der Nachtwind. Friedlich eigentlich. Fast schön.
Aber für solche Wahrnehmungen ist jetzt keine Zeit. Durchatmen. Kräfte sammeln. Für die nächste Etappe. Den buchstäblich nächsten Schritt. Sie weiß, dass sie so schnell wie möglich wegmuss von hier.
Man hört nichts Gutes über diese Leute …
Was hat sie damit gemeint, ihre Mutter? Was weiß sie über die Beltings? Außer dass sie ihr Vermögen mit Kriegswaffen gemacht haben?
Man hört nichts Gutes …
Warum hat sie nicht gefragt, was ihre Mutter gemeint hat? Warum, verdammt noch mal, war sie davon überzeugt, alles besser zu wissen? Warum stehen dort zwei Stühle? In welcher Richtung liegt das Haus? Der Irrgarten? Das Tor?
Wie schwer es ist, denkt sie, sich hier zurechtzufinden. Als ob man mitten in einem Albtraum wäre. Verloren. Orientierungslos. Blind. Oder liegt das an ihrem Gehirn, das noch immer nicht wieder richtig versorgt wird? Schwarze Fäden vor ihren Augen nehmen ihr die Sicht wie einer von diesen Vorhängen, die Insekten fernhalten. Aber von ein paar blöden Fäden lässt sie sich nicht unterkriegen. Leute wie die werden sie nicht bezwingen.
Sie kommt auf die Beine. Fällt hin. Rappelt sich. Stolpert weiter. Schwankend.
Auf einmal Applaus. Irgendwo aus dem Dunkel hinter dem Licht. Jemand klatscht. »Sie ist zäh.«
Ihre Blicke fliegen herum. Wie viele sind das? Und wo stecken sie? Was geht hier vor? Was plant man mit ihr? Für welche Art von Schauspiel muss sie herhalten?
Sie kneift die Augen zusammen und versucht, die Bilder scharf zu stellen. Aus
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