Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
dem Schatten hinter dem Licht löst sich eine Gestalt. Nein, zwei Gestalten. Natürlich zwei. Es ist ihr schon lange klar. Sie wusste es nur noch nicht.
Dort am Beckenrand stehen zwei Stühle …
»Was soll das?«, ruft sie in die Dunkelheit. »Was habt ihr vor?«
Keine Antwort.
»Ich habe keine Angst vor euch.«
Augen aus Stahl. »Du weißt, was du zu tun hast.«
Nur das.
Nur dieser eine Satz. Nackt, emotionslos.
Als ob sie über den Preis für ein Pfund Kartoffeln spräche.
Die Fäden vor ihren Augen verdichten sich. Aber nur kurz. Dann bricht das Gesicht ihres Schwarms durch den Vorhang ihrer Schwäche und steht gestochen scharf vor ihrem Blick, das Letzte, was sich in ihr Gedächtnis brennt. Leere braune Augen. Ein Werkzeug. Ein ausführendes Organ. Nichts weiter. Der verlängerte Arm seiner Meisterin.
Du weißt, was du zu tun hast …
Oh ja, das weiß er. Sie sieht seine Hand. Ein kleiner Schubs nur. Mehr ist nicht nötig. Dann spritzt das Wasser rings um sie weg, Milliarden winziger Tröpfchen, emporgewirbelt durch die Wucht, mit der ihr Körper zurückgeworfen wird ins Bodenlose. Ein glitzernder Reigen, in den das Licht der Laternen ein Meer aus Regenbögen zaubert.
Sie schlägt um sich. Blind. Und wild, trotz der Erschöpfung. Doch die Tiefe greift mit langen, kalten Fingern nach ihr. Zieht sie unbarmherzig hinab. Sie öffnet den Mund. Das Blatt fällt ihr ein, das kleine, unscheinbare Blütenblatt, das im Rost des Abflussgitters gezappelt hat, vorhin. So wie sie jetzt. War das wirklich erst ein paar Stunden her?
Ist das alles am Ende doch nur ein böser Traum?
Das Gurgeln, das Pochen in ihr wird leiser und macht einer leichten, beinahe unwirklichen Ruhe Platz. Hoch über ihr schweben die beiden Gesichter, deren Konturen nach und nach immer unschärfer werden. Zwei verzerrte Fratzen, die schier platzen vor Neugier auf den Tod. Den einzigen Kick in ihrem übervollen Leben. Sie werden zu Flecken, fern, hautfarben. Schließlich nur noch ein Schatten. Flimmernd hell. Trügerisch licht. Wie eine böse Sonne, die von hoch oben auf sie herabscheint.
Tut mir leid,
denkt sie, und erst mit ein paar Sekunden Verzögerung wird ihr klar, dass der Gedanke an ihre Mutter gerichtet ist.
Tut mir leid, dass Papa jetzt nicht stolz sein kann, wenn er heimkommt …
Die Stille um sie herum vertieft sich noch mehr, und sie fühlt, wie ihr entkräfteter Körper langsam ins Trudeln gerät. Schon kann sie die Fliesen unter sich spüren. Den Grund. Die Grenze. Fünf Meter sechzig über ihr. Eigentlich gar nicht so viel. Die »gute Stube« zu Hause misst auch fünf Meter sechzig. An ihrer langen Seite.
Seltsamer Zufall, denkt sie bei sich, während ein tiefer, unerwarteter Friede von ihr Besitz ergreift.
Das Einzige, was sie jetzt noch stört, ist der Gedanke, dass dort oben zwei Menschen stehen, einzig und allein aus dem Grund, ihr beim Sterben zuzuschauen.
Donnerstag, 18 . Dezember
1
Will Papens Haus lag in den Bergen hoch über Rüdesheim. Ein imposantes Weingut, sicher an die zweihundert Jahre alt, aber von Grund auf saniert und in einem hervorragenden Zustand. Allein der Zaun, der das weitläufige Grundstück umfriedete, hatte vermutlich so viel gekostet wie ein durchschnittliches Reihenhaus. Und wie zuvor bereits bei Boris Mang überlegte Winnie Heller, wie sich eine solche Immobilie mit Will Papens Bezügen in Einklang bringen ließ.
Ob
sie sich in Einklang bringen ließ. Aber solange sie keine Handhabe hatten zu überprüfen, wo das Geld herkam, galt wohl – hier wie überall – die Unschuldsvermutung.
Ob ihr das nun schmeckte oder nicht.
Verhoeven lenkte seinen Volvo die steile, aber gut gestreute Zufahrt hinauf. Nach leichten Schneefällen in der Nacht brach zum ersten Mal seit Tagen die Sonne durch die dichte Wolkendecke, als Verhoeven und sie vor dem Haus hielten. Die Hänge ringsum sahen aus wie gezuckert, und tief unter ihnen war der Rhein in dichte Nebelschwaden gehüllt. Eine Landschaft wie aus dem Märchenbuch.
Winnies Blick suchte Verhoeven, der bereits auf dem Weg zur Haustür war. Keiner von ihnen hatte mehr als drei Stunden geschlafen. Sie waren abwechselnd heimgefahren, hatten sich umgezogen (bei dieser Gelegenheit schien sich ihr Vorgesetzter immerhin rasiert zu haben), und dann hatten sie weitergemacht. Aber noch war nicht viel dabei herausgekommen. Die Spurensicherung arbeitete mit Hochdruck an der Analyse des Materials rund um Dorothea Ziesers Haus, für die die Ärzte am Morgen
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