Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
und hatte das Glück, dass der Komplize ebenso wenig mit ihr gerechnet und daher auch nicht sofort seine Waffe zur Hand hatte. Das ließ ihr immerhin die Zeit, sich zu Boden zu werfen. Nur einen Wimpernschlag später zischte eine Kugel über ihren Kopf. Winnie fluchte und rollte sich seitwärts, wo ihr eine schwere alte Möbeltruhe zumindest etwas Deckung bot. Dann feuerte sie blind in Richtung des Komplizen. Sie hörte, wie das Projektil irgendwo in eine Wand einschlug. Der Kerl erwiderte das Feuer umgehend. Etwas zerbarst ganz in ihrer Nähe. Und noch ein Schuss. Gleich darauf Schritte. Gepolter. Und ein entferntes Fluchen.
Der Mistkerl flüchtete!
Winnie riskierte einen Blick um das Möbel herum und sah, dass auch der zweite Mann fort war. Zugleich fiel ihr ein, dass es eine Terrassentür gab. Sie stemmte sich hoch und rannte zum Sessel, um nach Dorothea Zieser zu sehen. Die alte Dame war bei Bewusstsein, aber ihr Atem ging schwer und keuchend.
»Alles in Ordnung«, rief Winnie ihr zu. »Sie sind in Sicherheit. Haben Sie Schmerzen?«
In Dorothea Ziesers angsterfüllte Augen schlich sich ein Hauch von Erkennen. »Sie sind es«, flüsterte sie.
»Ja, ich. Sind Sie verletzt?«
Anstelle einer Antwort rieb die alte Dame ihr rechtes Handgelenk. Sie war erschreckend blass und trug ein buntes Baumwollnachthemd und darüber eine dicke Wolljacke. Allerdings war ihr rechter Arm nackt, die Jacke fast bis zur Schulter hochgeschoben.
Winnie ging neben ihr in die Knie und untersuchte die bleiche Haut. »Was haben diese Männer Ihnen getan?«
»Ich weiß nicht genau. Nichts, glaube ich.«
Winnies Augen glitten suchend über den Boden. Auf dem Teppich, halb verdeckt von einem Zeitungsständer, lag etwas, das wie die Kanüle einer Spritze aussah.
Ackermann spritzte seinen Opfern Esmeron. Ein Muskelrelaxans, das normalerweise in der klinischen Anästhesie Anwendung findet. Es hat eine extrem kurze Wirkeintrittszeit, sodass bereits nach einer, maximal anderthalb Minuten gute Intubationsbedingungen vorliegen …
Winnies Blick kehrte zu der alten Dame zurück. »Er hatte eine Spritze«, sagte sie.
Dorothea Zieser nickte.
»Hat er sie benutzt?«
»Nein.«
»Gut«, sagte Winnie, indem sie Dorothea Zieser flüchtig über die Wange streichelte. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich bin sofort wieder bei Ihnen.«
Dann rannte sie zur Haustür. Die Kerle waren zwar durch die Terrassentür geflüchtet, aber sie mussten irgendwie zu ihrem Wagen. Und der konnte nur vorn an der Straße stehen. Dass sie zu Fuß hier waren, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Das laute Aufheulen eines Motors vorn an der Straße bestätigte ihre Vermutung. Winnie stürmte über die ausgetretenen Waschbetonplatten und erreichte das Gartentor im selben Moment, als sich rund fünfzig Meter vor ihr die dunkle Limousine in Bewegung setzte. Der Wagen hüpfte über die hohe Bordsteinkante und schlingerte über die Fahrbahn, als der Fahrer das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Winnie blieb stehen und gab zwei Schüsse auf die Flüchtenden ab, wohl wissend, dass sie diese nicht aufhalten würde. Die erste Kugel traf eines der beiden Rücklichter. Die zweite ließ das hintere Seitenfenster zerbersten, als der Wagen in eine nahe Querstraße einbog. Wenige Augenblicke später war er endgültig aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Winnie riss ihr Handy aus der Jackentasche und verständigte die zentrale Einsatzleitung und den Notarzt. Dann kehrte sie zu Dorothea Zieser zurück, um im Schutz des Hauses auf das Eintreffen des Krankenwagens zu warten.
8
»Sie wollten es wie einen natürlichen Tod aussehen lassen.« Winnie lief in dem kahlen Konferenzzimmer hin und her wie ein in die Enge getriebenes Wild. »In der verdammten Spritze war nichts als Luft.«
»Das ist praktisch nicht nachzuweisen«, nickte Werneuchen.
»Aber Frau Zieser ist okay?«, fragte Verhoeven, der eben erst eingetroffen war.
»Vom Schreck mal abgesehen, ist ihr nicht viel passiert«, antwortete Winnie, die fand, dass ihr Vorgesetzter noch schlechter aussah als in den vergangenen Tagen und Wochen. Auf seinen Wangen lag ein dunkler Schatten von Bartstoppeln, und zum ersten Mal, seit Winnie ihn kannte, war seine Kleidung nicht perfekt aufeinander abgestimmt. Er trug tatsächlich braune Schuhe zu einer schwarzen Hose. Aber das mochte an der späten Stunde liegen. An der Eile, mit der er von zu Hause aufgebrochen war, nachdem ihn seine Kollegin per Handy vom Überfall auf Dorothea
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