Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
gar über sie?
Das wäre durchaus möglich.
Immerhin ist es ja nicht so, dass sie das alles nicht bemerken würde. Das Gerede der anderen. Sie geht nur nicht immer darauf ein. Das ist ein Unterschied. Trotzdem weiß sie ganz genau, von wem die Sache ausgeht. Und auch, dass sie nie irgendetwas getan hat, was so viel Ablehnung rechtfertigen würde.
Wie kann eine wie DIE sich wohl leisten, hier zu wohnen?
So etwas sagen sie natürlich nie. Aber sie denken es. Es steht ihnen buchstäblich auf der Stirn geschrieben, auch wenn sie so freundlich tun. Oh ja, denkt sie, der Mensch ist des Menschen schlimmster Feind. So hat ihr Manni das immer ausgedrückt. Ihr einziger, über alles geliebter Manni, den sie eigenartigerweise immer nur in jung vor sich sieht, obwohl er achtundachtzig geworden ist.
Seit drei Jahren muss sie nun ohne ihn auskommen. Und seit exakt drei Jahren ist er wieder zwanzig. Knackige zwanzig Jahre jung und geradezu unverschämt fesch anzuschauen in seiner Uniform. Obwohl er nicht gerade oft in ihrer Nähe ist in der letzten Zeit. Leider.
Ilse Brilon wischt sich das Lächeln aus dem Gesicht, während ihre Augen noch immer bemüht sind, das Flackern zuzuordnen. Vielleicht hat Manni ja im Augenblick Wichtigeres zu tun, als ihr Gesellschaft zu leisten. Oder aber der Krieg hat wieder angefangen. Wer weiß das so genau? Sie hat den Medien noch nie getraut, ganz egal, was sie verbreiten. Aber Krieg hin oder her, was diese eine Sache betrifft, ist sie ganz sicher: nämlich dass Manni, wo auch immer er gerade ist, hinter der nächsten Ecke auf sie wartet.
Oder zumindest hinter der übernächsten.
Das ist einer der Gründe, warum sie so gern läuft. Weil sie auf diese Weise andauernd um irgendwelche Ecken biegen kann. Rastlos, nennen die anderen sie deswegen. Oder auch: unerträglich. Sie findet es vernünftig.
Gang rauf, Gang runter.
Küche, Gewächshaus, Zimmer eins, Zimmer zwei.
Mauer, Haupttor, Garagen.
Warum die anderen dauernd auf ihren Zimmern hocken, hat sie noch nie verstanden. Aber sie klagen ständig über irgendwelche Schmerzen. Die Hüfte, der Rücken, die Gelenke. Ilse Brilon schüttelt den Kopf. Das kommt davon, wenn man jeder Kleinigkeit nachgibt, denkt sie. Wenn man sich buchstäblich zu Tode schont. Aber so was hat sie sich ja gottlob noch nie leisten können. Drei Kinder, ein Restaurant und ein Mann, der in Kriegszeiten ein Held und im Frieden ein Bündel von Ängsten ist – da bleibt nicht viel Raum für Wehwehchen.
Gang rauf, Gang runter …
Küche, Gewächshaus …
Gewächshaus!
Ilse Brilons Blick erstarrt, und sie bemerkt erfreut, wie das Chaos sich lichtet. Das seltsame blaue Flackern schmilzt auf einen Fernsehbildschirm zusammen. Und auch das mysteriöse Flüstern erklärt sich jetzt. Ein Mann und eine Frau streiten in einem Raum, der wie ein exotischer Palast aussieht. Jedenfalls weit weg und nicht real. Sie nickt.
Gut so! Sollen die Schwestern bei Nacht doch ruhig ein bisschen Unterhaltung haben …
Doch der Stuhl vor dem Bildschirm ist leer.
»Schwester?«
»Ilse!«
Die Stimme ihrer Mutter!
Sie fährt erschrocken herum. Nach all diesen Jahren verwandelt sie diese Stimme noch immer von einem Augenblick zum anderen in ein kleines Kind. Irgendwann, hat sie früher gedacht, hört das mal auf. Irgendwann lässt der Einfluss nach. Irgendwann gehört auch diese Stimme zu den Dingen, die keine Rolle spielen. Aber es hört nicht auf.
Manches bleibt einfach, wie es ist.
»Was tust du hier?«
»Ich …«
Ja, was denn eigentlich?
Sie überlegt.
»Du hast hier nichts zu suchen. Die Nacht ist zum Schlafen da, verstanden? Sonst kriege ich dich morgen früh wieder nicht aus den Federn!«
»Ja, Mama.«
»Na, mach schon. Los jetzt!«
Sie hat das diffuse Gefühl, als habe sie noch etwas zu erledigen. Aber ihr will im Augenblick einfach nicht einfallen, was es ist. Also entscheidet sie sich für den Weg des geringsten Widerstandes. Das hat sie schon immer getan. Bei ihren Eltern und Geschwistern genauso wie in ihrer Ehe und im Umgang mit ihren Kindern.
»Weißt du noch, die Hühner, die wir hatten?«, fragt sie im Gehen, und kaum dass die Frage heraus ist, sieht sie auch schon den sonnendurchfluteten Hof vor sich. »Den Geschmack dieser Eier werde ich niemals vergessen …«
»Du magst gar keine Eier.«
Doch, protestiert etwas tief in ihr. Nur nicht das, was sie uns hier unter dem Namen »Ei« andrehen wollen. Dieses glibbrige Zeug ohne Geschmack …
»Nun komm
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