Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Blaubart trug«, ergänzte Verhoeven, und Winnie Heller überlegte, wie er es in dieser kurzen Zeit fertiggebracht hatte, derart viele Informationen zusammenzutragen. Doch dann fiel ihr Blick auf sein iPhone, und sie verstand. »Der historische Gilles de Rais war ein Weggefährte Jeanne d’Arcs und wurde wegen Mordes an hundertvierzig Kindern angeklagt und gehenkt.«
»He, das ist nicht fair«, protestierte Lübke, halb im Scherz, halb ernst. »Mit diesem Wissen wollte
ich
glänzen!«
»Vor wem?«, lachte Jensen, und Winnie registrierte, wie Lübke rot anlief.
Als ihm bewusst wurde, dass sie ihn ansah, senkte er eilig den Kopf.
»Glauben Sie an einen Zufall?«, wandte sie sich wieder an Verhoeven.
»Ich glaube grundsätzlich nicht an Zufälle«, erwiderte dieser, und irgendetwas an seinem Verhalten heute Abend machte Winnie stutzig. Doch sie fand einfach nicht heraus, was es war. »Die Nähe des Tatorts zu einer Seniorenresidenz ist die eine Sache«, fuhr Verhoeven nach einer Weile fort. »Die andere ist dieses Grab, zu dem Ackermann offensichtlich bestellt oder gelockt wurde.«
»Vorsicht«, mahnte Lübke. »Noch wissen wir nicht, warum er tatsächlich auf diesem Friedhof gewesen ist.«
»Ja, ja«, entgegnete Verhoeven gereizt. »Aber wir sind uns doch wohl einig, dass der Tatort – ebenso wie die Tötungsart – auf keinen Fall willkürlich gewählt wurde.«
»Wohl kaum«, gab Lübke zu.
»Okay, auf dem Grabstein steht der Name eines multiplen Mörders, und daneben liegt die Leiche eines wegen Dreifachmordes verurteilten Todesengels«, resümierte Winnie, »der noch dazu vor seinem Tod gefoltert wurde … Also, für mich klingt das schon, als ob da jemand ein Zeichen setzen wollte.«
Lübke schürzte die Lippen. »Aber wer?«, fragte er. »Jemand, der Ackermann zum Schweigen bringen wollte? Ein Racheengel? Oder gar ein Bewunderer?«
Jensen sah seinen Boss an, als habe der den Verstand verloren. »Ein Bewunderer?«
»Warum nicht?« Lübke warf seine Serviette auf den Tisch. »Solche Kerle werden in den einschlägigen Szenen geradezu kultartig verehrt. Und die Frauen scheinen ja auch in Scharen auf diese bösen Jungs abzufahren.« Er schielte zu Winnie hinüber.
Oberflächlich betrachtet war es reine Neckerei. Aber es steckte auch eine Erwartung dahinter, das spürte sie genau. Die Erwartung, dass sie widersprach. Doch was das anging, hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen.
»Wir müssen wohl oder übel mehrgleisig vorgehen«, sagte sie stattdessen. »Uns um all diejenigen kümmern, zu denen Ackermann während seiner Haftzeit Kontakt hatte. Und auf der anderen Seite nach jemandem suchen, der ein Motiv hatte, sich an Ackermann zu rächen. Oder ihn aus dem Weg zu räumen. Wie auch immer …«
»Was ist mit den Angehörigen seiner damaligen Opfer?«, schlug Jensen vor.
»Ja.« Verhoeven nickte. »Damit fangen wir an.«
»Aber nicht mehr heute Abend«, entschied Lübke.
»Ach du Schreck, nein«, stöhnte Jensen nach einem Blick auf seine Armbanduhr. »Vertagen wir uns auf morgen.«
Winnie Heller blickte zu ihrem Vorgesetzten hinüber. Es war mittlerweile halb elf durch. Für Verhoevens Verhältnisse geradezu irrsinnig spät. Trotzdem schien er nicht wirklich in Eile zu sein. Im Gegenteil: Er beglich in aller Gemütsruhe die Rechnung und alberte mit Lübke herum, während Jensen ihr galant in den Parka half.
»Sehen wir uns am Freitag?«
Winnie brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass er von der präsidiumseigenen Pokerrunde sprach. Jensen war ein ziemlich miserabler Spieler und erschien darüber hinaus nur sporadisch, aber offenbar hatte er vor, diesen Freitag wieder einmal zu kommen.
»Klar.« Sie stutzte. »Das heißt, falls nichts anderes anliegt.«
»Du meinst so was wie ein toter Altenpfleger?«
»Ja«, lachte sie. »Zum Beispiel.«
Sie wickelte sich ihren Schal um den Hals und trat mit hochgezogenen Schultern hinaus in die eisige Nacht.
Verhoeven, der ihr gefolgt war, wühlte ein Paar Wildlederhandschuhe aus den Taschen seines Wollmantels. »Dann also bis morgen, ja?«
Winnie nickte und fasste flüchtig nach seinem Ärmel. »Sonst alles klar?«
Er schien ehrlich überrascht zu sein. Aber vielleicht war er auch einfach nur ein guter Schauspieler. »Sicher. Wieso?«
Na super! Mister Weiß-von-nichts!
»Ach, nur so.« Sie zögerte und sah sich nach Lübke um, der unter der Tür noch mit seinem Reißverschluss kämpfte. »Ich wollte eigentlich bloß wissen, ob Sie
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