Schneetreiben
Gefühlswelt konnte man zu jener Zeit nur als ein einziges Trümmerfeld bezeichnen. Sie hatte sich von ihrem Exmann Tom getrennt, nachdem Marie gestorben war, und hatte sich damals emotional weder in der Lage noch bereit gefühlt, eine neue Beziehung zu Georg zu beginnen. Und angesichts des Ballasts, den Georg und sie damals beide mit sich herumgeschleppt hatten, glaubte Anna nicht, dass ihre Beziehung, selbst wenn sie es um Emilys willen miteinander versucht hätten, immer noch Bestand gehabt hätte. Inzwischen war sie froh, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Georg und sie verband eine tiefe und lange Freundschaft, die ihre beiden Ehen überdauert hatte und durch ihre Liebe für das gemeinsame Kind noch gewachsen war. Anna fand, dass sie ihrer Tochter nicht das schlechteste Elternmodell boten. Denn dadurch, dass Emily es nicht anders kannte und nie mit beiden Eltern zusammengelebt hatte, vermisste sie es auch nicht. Vor allem aber trugen Anna und Georg nicht das schwere Päckchen anderer getrennt lebender Eltern auf dem Rücken, in dem eine meist hochexplosive Mischung aus Enttäuschung, Verletzlichkeit und der oft existenziellen Frage um »Mein« und »Dein« verpackt war unddie oft auch das Leben der Kinder zu einem bedrohlichen Pulverfass werden ließ.
Wenn es zwischen Georg und ihr Meinungsverschiedenheiten gab, dann diskutierten sie in der Sache und fanden stets eine gute Lösung. Es ging nicht hintergründig um verletzte Gefühle oder Stolz, was jedenfalls Georg seit seiner Scheidung in der Auseinandersetzung mit seiner Exfrau nur zu gut kannte. Denn er hatte neben Emily noch zwei größere Kinder, und wenn es um deren Erziehung ging, lief es oft weit weniger harmonisch ab.
»Hattet ihr gestern Besuch?«, riss Georg Anna aus ihren Gedanken und spielte gleichzeitig auf die drei Sekt- und Weinkelche an, die auf Annas Spüle standen.
»Ja, meine Eltern waren ganz spontan zum Abendessen hier.«
»Ach.« Georg hob die Brauen, und Anna war sicher, dass er sich schon seinen Teil dachte, weil er nicht jeweils vier schmutzige Gläser zählte.
»Du kannst dich auch gern an den Esstisch setzen, wenn du möchtest«, bot Anna an, während sie die aufgeschäumte Milch in hohe Gläser füllte.
»Nein, danke, ich sehe dir gern beim Arbeiten zu«, sagte Georg, der lässig am Kühlschrank lehnte.
»Wir haben noch nicht abschließend über Weihnachten gesprochen«, fiel Anna ein.
Georg sah sie prüfend an: »Wir müssen das heute nicht klären, Anna. Ich kann verstehen, wenn dir nicht danach ist.«
»Doch«, sagte Anna mit Nachdruck. »Wann siehst du die Großen?« Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Georgs Kinder aus seiner Ehe entsprechend zu nennen.
»Sie sind Heiligabend wie sonst auch bei Sabine, und ich sehe sie dann am ersten Weihnachtstag ab Mittag«, antwortete er. Anna wusste, dass das, was Georg scheinbar so leicht dahinsagte, ihm dennoch zu schaffen machte.
»Dann kommst du Heiligabend wieder zu uns«, entschied Anna. »Es sei denn, es gibt inzwischen jemand anderen, mit dem du Weihnachten verbringst.«
»Sagen wir mal so«, Georg zwinkerte, »niemanden, von dem du oder Emily wissen müsstest.«
»Also dann ist es entschieden?«, wollte Anna wissen.
Georg zögerte einen Moment, bevor er antwortete. »Ich würde mich natürlich freuen, wenn ich Emily Heiligabend sehen und kurz bei euch vorbeikommen könnte, Anna, aber bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Der Kommissar – entschuldige, Ben Bendt – wird doch sicher auch hier sein oder nicht?«
Georg machte einen Schritt auf Anna zu und sah sie eindringlich an. Anna wich seinem prüfenden Blick jedoch aus. »Ben wird am Tage hier sein, fährt aber abends zu seinen Eltern.«
»Alles klar.« Georg trat jetzt noch näher an Anna heran und strich ihr über die Wange. »Wie wäre es, wenn du den heutigen Tag mit mir und Emily verbringst?«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich will zum Friedhof.« Gegen ihren Willen traten ihr Tränen in die Augen. Georg nahm sie in den Arm. Obwohl er es nicht aussprach, wusste sie, dass ihn eine Frage beschäftigte: »Hat dein Kommissar vergessen, was heute für ein Tag ist, oder hast du es ihm nicht gesagt?«
22
Anders als erhofft, hatte es zwei Tage gedauert, bis Teubert tatsächlich vernehmungsfähig war. Der Mediziner hatte eine Gefäßverletzung unterhalb des Schlüsselbeins erlitten. Der damit verbundene hohe Blutverlust hatte ihn stark geschwächt. Immerhin war die Wunde ohne Komplikationen
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