Schneewittchen muss sterben
Bodenstein. Die Frage überraschte Daniela Lauterbach nicht.
»Nein. Es war kurz nach eins, als ich aus Königstein kam.« Sie seufzte. »Ich sah einen Mann auf der Bank an der Bushaltestelle liegen und hielt an. Da erst erkannte ich, um wen es sich handelte.« Sie schüttelte langsam den Kopf, ihre dunklen Augen waren voller Mitgefühl. »Tobias war sturzbetrunken und schon völlig unterkühlt. Er hatte sich übergeben, war ohne Bewusstsein. Es dauerte zehn Minuten, bis ich ihn im Auto hatte. Hartmut und ich haben ihn dann auf sein Zimmer und ins Bett gebracht.«
»Hat er irgendetwas zu Ihnen gesagt?«, wollte Pia wissen.
»Nein«, antwortete die Ärztin. »Er war gar nicht ansprechbar. Zuerst hatte ich auch überlegt, den Notarzt zu rufen und ihn ins Krankenhaus bringen zu lassen, aber ich wusste, dass er das auf gar keinen Fall gewollt hätte.«
»Woher?«
»Ich hatte ihn ja nur ein paar Tage vorher behandelt, als man ihn in der Scheune überfallen und zusammengeschlagen hat.« Sie beugte sich vor und sah Bodenstein so eindringlich an, dass ihm heiß wurde. »Er kann einem wirklich leidtun, egal, was er getan hat. Die anderen mögen sagen, zehn Jahre Gefängnis wären zu wenig gewesen. Ich denke, Tobias ist für den Rest seines Lebens bestraft.«
»Es gibt Hinweise darauf, dass er etwas mit Amelies Verschwinden zu tun haben könnte«, sagte Bodenstein. »Sie kennen ihn besser als viele andere. Halten Sie das für möglich?«
Daniela Lauterbach lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schwieg eine volle Minute, ohne ihren Blick von Bodenstein zu wenden.
»Ich wünschte«, sagte sie schließlich, »ich könnte jetzt voller Überzeugung ›Nein‹ sagen. Aber das kann ich leider nicht.«
Sie zerrte sich die Kurzhaarperücke vom Kopf, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Ihre Finger zitterten zu sehr, um das rote Band, das die Rolle zusammenhielt, aufzuknoten, deshalb ergriff sie ungeduldig eine Schere und schnitt es durch. Mit klopfendem Herzen rollte sie die Bilder auf ihrem Schreibtisch auseinander. Acht Stück waren es, und ihr verschlug es den Atem, als sie mit Entsetzen erkannte, was darauf zu sehen war. Dieser elende Mistkerl hatte die Ereignisse des 6. September 1997 mit wahrhaft fotografischer Präzision auf Leinwand gebannt, kein noch so kleines Detail war ihm entgangen. Sogar der alberne Schriftzug und das stilisierte Schweinchen auf den dunkelgrünen T-Shirts waren deutlich zu erkennen! Sie biss sich auf die Lippen, das Blut rauschte in ihren Ohren. Die Erinnerung war schlagartig wieder lebendig. Das demütigende Gefühl der Niederlage ebenso wie die wilde Genugtuung beim Anblick von Laura, die endlich das bekam, was sie verdiente, dieses verdammte überhebliche Flittchen! Sie zog die anderen Bilder hervor, glättete sie mit beiden Händen. Nackte Panik ergriff sie, genau wie damals. Unglaube, Fassungslosigkeit, kalter Zorn. Sie richtete sich auf und zwang sich, tief durchzuatmen. Dreimal, viermal. Ganz ruhig. Nachdenken. Das hier war keine Katastrophe, es war der absolute Super-GAU. Es konnte ihre sorgfältige Planung vollkommen zerstören, und das durfte sie nicht zulassen! Mit zittrigen Fingern zündete sie sich eine Zigarette an. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten die Bullen diese Bilder in die Hände bekommen! Ihr war ganz flau im Magen. Was sollte sie jetzt tun? Waren das wirklich alle Bilder, oder hatte Thies noch andere gemalt? Sie durfte kein Risiko eingehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mit hastigen Zügen rauchte sie die Zigarette bis zum Filter, dann wusste sie, was zu tun war. Sie hatte schon immer alle Entscheidungen allein treffen müssen. Mit grimmiger Entschlossenheit ergriff sie die Schere und schnitt die Bilder, eines nach dem anderen, in kleine Stücke. Dann ließ sie alles durch den Reißwolf laufen, nahm den Sack mit den Papierschnipseln heraus und schnappte ihre Tasche. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren, dann würde alles gutgehen.
Kriminaloberkommissar Kai Ostermann musste sich niedergeschlagen eingestehen, dass die Geheimschrift in Amelies Tagebuch für ihn ein unlösbares Rätsel war. Zuerst hatte er gedacht, es sei ein Leichtes, die Hieroglyphen zu entziffern, aber nun war er nahe daran, aufzugeben. Er erkannte einfach kein System. Offenbar hatte sie für die gleichen Buchstaben verschiedene Symbole benutzt, das machte es ihm so gut wie unmöglich, den Code zu knacken. Behnke kam zur Tür herein.
»Und?«, fragte Ostermann. Bodenstein hatte es Behnke
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