Schneewittchen muss sterben
Schulnoten, Mädchen oder Erfolg im Sport. Selten hatte er Rücksicht genommen, und dennoch war er beliebt gewesen, der strahlende Mittelpunkt der Clique. Oder hatte er das nur geglaubt, blind und überheblich in seiner grenzenlosen Ichbezogenheit?
Das Wiedersehen mit Jörg, Felix und den anderen hatte vage Erinnerungen in ihm wachgerufen, an lange vergessene Ereignisse, die er für Kleinigkeiten gehalten hatte. Er hatte Laura damals Michael ausgespannt, ohne einen Anflug schlechten Gewissens seinem Kumpel gegenüber. Mädchen waren bloße Trophäen seiner Eitelkeit gewesen. Wie oft hatte er mit seiner Gedankenlosigkeit Gefühle verletzt, wie viel Zorn und Kummer verursacht? Richtig begriffen hatte er das erst in dem Moment, als Stefanie mit ihm Schluss gemacht hatte. Er hatte es nicht akzeptieren wollen, hatte sogar vor ihr gekniet und sie angebettelt, aber sie hatte ihn nur ausgelacht. Was hatte er dann getan? Was hatte er mit Amelie getan? Wie war ihr Handy in seine Hosentasche gelangt?
Tobias ließ sich auf das Sofa sinken, presste die Handflächen gegen seine Schläfen und versuchte verzweifelt, die Erinnerungsfetzen in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Doch je mehr er sich zu zwingen versuchte, desto weniger wollte es ihm gelingen. Es war zum Verrücktwerden.
Obwohl ihre Praxis brechend voll war, ließ Dr. Daniela Lauterbach Bodenstein und Pia nicht lange warten.
»Was macht Ihr Kopf?«, erkundigte sie sich freundlich.
»Keine Probleme.« Bodenstein berührte wie im Reflex das Pflaster an seiner Stirn. »Ein bisschen Kopfschmerzen, sonst nichts.«
»Wenn Sie wollen, schaue ich es mir noch einmal an.«
»Das ist nicht nötig. Wir möchten Sie auch nicht lange aufhalten.«
»Na gut. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Bodenstein nickte lächelnd. Vielleicht sollte er wirklich seinen Hausarzt wechseln. Daniela Lauterbach unterschrieb rasch drei Rezepte, die ihre Sprechstundenhilfe auf den Empfangstresen gelegt hatte, dann führte sie Bodenstein und Pia in ihr Büro. Der Parkettfußboden knarrte unter ihren Schritten. Mit einer Geste bot die Ärztin ihnen die Besucherstühle an.
»Es geht um Thies Terlinden.« Bodenstein setzte sich, aber Pia blieb stehen.
Daniela Lauterbach nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und blickte ihn aufmerksam an. »Was möchten Sie über ihn wissen?«
»Seine Mutter sagte uns, er habe einen Anfall gehabt und sei nun in der Psychiatrie.«
»Das ist richtig«, bestätigte die Ärztin. »Viel mehr kann ich Ihnen darüber aber auch nicht sagen. Sie wissen ja, die Schweigepflicht. Thies ist mein Patient.«
»Man hat uns erzählt, dass Thies Amelie in der Vergangenheit verfolgt hat«, meldete sich Pia aus dem Hintergrund.
»Er hat sie nicht verfolgt, sondern begleitet«, korrigierte die Ärztin. »Thies mag Amelie sehr gerne, und das ist seine Art, Zuneigung zu zeigen. Amelie hat das übrigens von Anfang an richtig einschätzen können. Sie ist ein sehr sensibles Mädchen, trotz ihres etwas ungewöhnlichen Äußeren. Ein Glücksfall für Thies.«
»Thies' Vater hat nach einer Auseinandersetzung mit seinem Sohn blutige Kratzer an den Händen davongetragen«, sagte Pia. »Neigt Thies zu Gewalttätigkeiten?«
Daniela Lauterbach lächelte ein wenig bekümmert. »Da nähern wir uns schon sehr dem Gebiet, über das ich mit Ihnen eigentlich nicht sprechen darf«, entgegnete sie. »Aber ich vermute, dass Sie Thies im Verdacht haben, Amelie etwas angetan zu haben. Das halte ich für ausgeschlossen. Thies ist Autist und verhält sich anders als ein ›normaler‹ Mensch. Er ist nicht fähig, seine Gefühle zu zeigen oder gar zu äußern. Hin und wieder hat er diese … Ausbrüche, aber sehr, sehr selten. Seine Eltern kümmern sich großartig um ihn, und er verträgt die Medikamente, die er seit vielen Jahren bekommt, sehr gut.«
»Würden Sie Thies als geistig behindert bezeichnen?«
»Auf gar keinen Fall!« Daniela Lauterbach schüttelte heftig den Kopf. »Thies ist hochintelligent und hat eine außergewöhnliche Begabung für die Malerei.«
Sie wies auf die abstrakten großformatigen Bilder, die so ähnlich auch im Haus und im Büro von Terlinden an den Wänden hingen.
»Das hat Thies gemalt?« Pia schaute erstaunt die Bilder an. Auf den ersten Blick hatte sie es nicht wahrgenommen, aber nun erkannte sie, was sie darstellten. Sie schauderte, als sie menschliche Gesichter erkannte, verzerrt, verzweifelt, die Augen voll Qual, Angst und Entsetzen. Die Intensität dieser
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