Schneewittchen muss sterben
Biedermeier-Kommode ein Stück von der Wand weg.
»Eine Tapetentür«, stellte die Kommissarin fest und drehte sich zu Barbara Fröhlich um. »Darf ich sie aufmachen?«
»Sicher. Ich wusste gar nicht, dass es da eine Tür gibt.«
»In vielen Häusern mit Dachschrägen werden die Abseiten als Abstellfläche genutzt«, erklärte die Polizeibeamtin und lächelte das erste Mal ein wenig. »Gerade dann, wenn man im Haus keinen Speicher hat.«
Sie ging in die Hocke, zog die Tür auf und kroch in den kleinen Raum zwischen Wand und Dachisolierung. Ein kalter Lufthauch drang herein. Wenig später kehrte sie zurück, in den Händen eine dicke, in Papier eingeschlagene Rolle, die sorgfältig mit einem roten Band umwickelt war.
»Mein Gott«, sagte Barbara Fröhlich. »Sie haben tatsächlich etwas gefunden.«
Kriminaloberkommissarin Maren König richtete sich auf und klopfte den Staub von ihrer Hose. »Ich nehme die Bilder mit. Wenn Sie möchten, quittiere ich Ihnen den Empfang.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, versicherte Barbara Fröhlich rasch. »Wenn die Bilder Ihnen dabei helfen können, Amelie zu finden, dann nehmen Sie sie nur mit.«
»Danke.« Die Kommissarin legte ihr die Hand auf den Arm. »Und machen Sie sich nicht zu große Sorgen. Wir tun wirklich alles Menschenmögliche, um Amelie zu finden. Das kann ich Ihnen versprechen.«
Das klang so mitfühlend, dass Barbara Fröhlich mit aller Kraft gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste. Sie nickte nur stumm und dankbar. Kurz überlegte sie, ob sie Arne anrufen und ihm von den Bildern erzählen sollte. Aber sie war noch immer tief gekränkt über sein Verhalten, deshalb tat sie es nicht. Erst als sie sich etwas später einen Tee aufbrühte, fiel ihr auf, dass sie völlig vergessen hatte, sich die Bilder anzusehen.
Tobias ging unruhig im Wohnzimmer von Nadjas Wohnung auf und ab. Der große Fernseher an der Wand lief ohne Ton. Die Polizei suchte im Zusammenhang mit dem Verschwinden der siebzehnjährigen Amelie F. nach ihm, das hatte er eben im Videotext gelesen. Nadja und er hatten die halbe Nacht beratschlagt, wie er sich verhalten sollte. Sie hatte die Idee gehabt, nach den Bildern zu suchen. Gegen Mitternacht war sie eingeschlafen, aber er hatte wach gelegen und verzweifelt versucht, sich zu erinnern. Eins stand fest: Meldete er sich bei der Polizei, so würden sie ihn auf der Stelle verhaften. Er hatte keine plausible Erklärung dafür, wie das Handy von Amelie in seine Hosentasche gekommen sein konnte, und nach wie vor keine blasse Erinnerung an die Nacht von Samstag auf Sonntag.
Amelie musste irgendetwas über die Ereignisse von 1997 in Altenhain herausgefunden haben, etwas, das jemandem gefährlich werden konnte. Aber wer war dieser Jemand? Seine Gedanken führten ihn immer wieder zu Claudius Terlinden. Elf Jahre lang hatte er ihn für seinen einzigen Beschützer auf dieser Welt gehalten, im Knast hatte er sich auf seine Besuche gefreut, auf die langen Gespräche mit ihm. Was für ein Idiot er gewesen war! Terlinden hatte nur seinen eigenen Vorteil im Blick gehabt. Tobias ging nicht so weit, ihn für das Verschwinden von Laura und Stefanie verantwortlich zu machen. Aber er hatte die Notlage seiner Eltern rücksichtslos ausgenutzt, um das zu bekommen, was er haben wollte: den Schillingsacker, auf den er das neue Verwaltungsgebäude seiner Firma gebaut hatte.
Tobias zündete sich eine Zigarette an. Der Aschenbecher auf dem Couchtisch quoll bereits über. Er trat ans Fenster und blickte hinaus auf das schwarze Wasser des Mains. Die Minuten verrannen quälend langsam. Wie lange war Nadja schon weg? Drei Stunden? Vier Stunden? Hoffentlich hatte sie Erfolg! Ihr Plan war der einzige Strohhalm, an den er sich klammerte. Wenn es tatsächlich diese Bilder gab, von denen Amelie ihm am Samstag erzählt hatte, dann konnten sie mit ihnen vielleicht seine Unschuld beweisen und gleichzeitig herausfinden, wer Amelie entführt hatte. Ob sie noch lebte? Ob … Tobias schüttelte unwillig den Kopf, aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben. Was, wenn das alles stimmte, was Psychologen, Gutachter und das Gericht ihm damals bescheinigt hatten? Wurde er unter dem Einfluss von zu viel Alkohol vielleicht tatsächlich zum Monster, wie von der Presse mit Genuss dargestellt? Früher war sein Aggressionspotential groß gewesen, Niederlagen hatte er nur schlecht wegstecken können. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, zu bekommen, was er wollte – gute
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