Schneewittchen muss sterben
Gavrilow?«
»Ja«, erwiderte sie ruhig.
Die Welt stürzte für ihn ein, aber es gelang Bodenstein, äußerlich ebenso ruhig zu bleiben wie Cosima. »Warum?«, fragte er nur selbstquälerisch. »Ach, Oliver. Was willst du denn jetzt von mir hören?«
»Am liebsten die Wahrheit.«
»Ich habe ihn im Sommer zufällig auf einer Vernissage in Wiesbaden getroffen. Er hat ein Büro in Frankfurt, plant ein neues Projekt und sucht dafür Sponsoren. Wir haben ein paarmal telefoniert. Er hatte die Idee, ich könnte einen Film über seine Expedition machen. Ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde, und wollte mir erst einmal anhören, was er für Vorstellungen hat. Deshalb habe ich dir nicht erzählt, dass ich mich mit ihm getroffen habe. Na ja. Und irgendwann ist es einfach … passiert. Ich dachte, es wäre ein Ausrutscher, aber dann …« Sie brach ab, schüttelte den Kopf.
Unfassbar, dass sie einen anderen Mann hatte treffen und mit ihm ein Verhältnis beginnen konnte, ohne dass er etwas davon geahnt hatte. War er zu blöd, zu vertrauensselig gewesen oder zu sehr mit sich selbst beschäftigt? Ihm fiel der Text eines Liedes ein, mit dem Rosalie in ihrer schlimmsten Pubertätsphase unablässig das ganze Haus beschallt hatte.
Was bat er, was ich nicht habe? Sag mir ehrlich, was es ist. Jetzt ist es zwar zu spät, aber was hast du vermisst?
So ein bescheuertes Lied – und jetzt auf einmal enthielt es so viel Wahrheit. Bodenstein ließ Cosima stehen, ging die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Noch eine Minute länger, dann wäre er explodiert, hätte ihr ins Gesicht gebrüllt, was er von Abenteurern wie Gavrilow hielt, die mit verheirateten Müttern kleiner Kinder eine Affäre anfingen. Wahrscheinlich hatte er überall auf der Welt seine Liebschaften verteilt, dieser Windhund! Er öffnete sämtliche Kleiderschränke, zerrte eine Reisetasche aus einem der oberen Fächer, stopfte sie wahllos mit Unterwäsche, Hemden, Krawatten voll und warf zwei Anzüge obendrauf. Dann ging er ins Bad und packte seine persönlichen Dinge in einen Toilettenbeutel. Nur zehn Minuten später schleppte er die Reisetasche die Treppe hinunter. Cosima stand noch an derselben Stelle wie vorhin.
»Wo gehst du hin?«, fragte sie leise.
»Weg«, erwiderte er, ohne sie anzusehen, öffnete die Haustür und trat hinaus in die Nacht.
Freitag, 21. November 2008
Um Viertel nach sechs wurde Bodenstein vom Klingeln seines Handys aus dem Tiefschlaf gerissen. Benommen tastete er nach dem Lichtschalter, bis er sich daran erinnerte, dass er nicht zu Hause in seinem eigenen Bett lag. Er hatte schlecht geschlafen und wirre Dinge geträumt. Die Matratze war zu weich, das Federbett zu warm, so dass er abwechselnd geschwitzt und gefroren hatte. Das Handy klingelte hartnäckig weiter, setzte kurz aus und klingelte erneut. Bodenstein wälzte sich aus dem Bett, tastete sich in der Dunkelheit orientierungslos durch den fremden Raum und knurrte einen Fluch, als er mit dem großen Zeh gegen ein Tischbein stieß. Endlich hatte er den Lichtschalter neben der Tür gefunden und kurz drauf sein Handy in der Innentasche des Jacketts, das er gestern Nacht über den Stuhl geworfen hatte.
Der Förster hatte auf einem Waldparkplatz unterhalb des Eichkopfes zwischen Ruppertshain und Königstein eine männliche Leiche in einem Auto entdeckt. Die Spurensicherung war schon unterwegs, ob er kurz vorbeifahren und sich die Sache ansehen würde. Natürlich würde er – was blieb ihm auch anderes übrig? Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte er zurück zum Bett und ließ sich auf die Bettkante sinken. Die gestrigen Ereignisse erschienen ihm wie ein böser Traum. Fast eine Stunde war er ziellos durch die Gegend gefahren, bis er eher zufällig an der Abfahrt zum Gutshof vorbei gekommen war. Weder sein Vater noch seine Mutter hatten ihm Fragen gestellt, als er kurz vor Mitternacht bei ihnen vor der Haustür gestanden und um Asyl für eine Nacht gebeten hatte. Seine Mutter hatte ihm in einem der Gästezimmer unterm Dach ein Bett hergerichtet und war nicht weiter in ihn gedrungen. Sicher hatte sie seinem Gesicht angesehen, dass er nicht aus Spaß vorbeigekommen war. Er war dankbar für die Diskretion. Unmöglich hätte er darüber reden können, über Cosima und diesen Kerl.
Mit einem Seufzer erhob er sich, fischte den Toilettenbeutel aus der Reisetasche und ging über den Flur hinüber in das Badezimmer. Es war winzig und eiskalt und erinnerte ihn unangenehm an seine Kindheit und Jugend,
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