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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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mehr!« Das klang verzweifelt und echt nach Rosalie. Schon als Kind hatte sie sich für alles, was in der Familie und in ihrem Freundeskreis geschah, verantwortlich gefühlt – und sich damit oftmals mehr aufgebürdet, als sie zu tragen vermochte.
    »Bis Weihnachten sind es noch ein paar Wochen. Und ich bin nicht allein«, versicherte er ihr. »Opa und Oma sind da, Quentin und Marie-Louise. Es ist nicht so schlimm.«
    »Aber du bist doch sicher traurig.«
    Dieser Logik hatte er nichts entgegenzusetzen.
    »Ich habe im Moment so viel zu tun, dass ich gar nicht richtig dazu komme, traurig zu sein.«
    »Ist das wahr?« Ihre Lippen zitterten. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du traurig und alleine bist, Papa.«
    »Mach dir keine Sorgen. Du kannst mich jederzeit anrufen oder mir eine SMS schreiben. Aber du musst jetzt ins Bett und ich auch. Morgen reden wir noch mal, okay?«
    Rosalie nickte unglücklich und zog die Nase hoch. Dann gab sie ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, umarmte ihn noch einmal, stieg in ihr Auto und ließ den Motor an. Er blieb auf dem Parkplatz stehen und blickte ihr nach, bis die Rücklichter ihres Wagens im Wald verschwunden waren. Mit einem Seufzer wandte er sich zum Gehen. Die Erkenntnis, dass ihm die Zuneigung seiner Kinder erhalten bleiben würde, selbst wenn seine Ehe in die Brüche gehen sollte, erleichterte und tröstete ihn.

Samstag, 22. November 2008
    Sie fuhr hoch. Ihr Herz klopfte laut, mit weit aufgerissenen Augen blickte sie sich um, aber es war so stockdunkel wie immer. Was hatte sie geweckt? Hatte sie tatsächlich ein Geräusch gehört oder nur davon geträumt? Amelie starrte in die Dunkelheit und lauschte angestrengt. Nichts. Sie hatte es sich nur eingebildet. Mit einem Seufzer richtete sie sich von der modrigen Matratze auf, umfasste ihre Fußknöchel und massierte ihre kalten Füße. Auch wenn sie sich immer wieder sagte, dass man sie finden, dass sie diesen Alptraum hier überleben würde, so hatte sie insgeheim die Hoffnung aufgegeben. Wer auch immer sie hier eingesperrt hatte, hatte nicht vor, sie jemals wieder rauszulassen. Bislang hatte sich Amelie der regelmäßig wiederkehrenden Panikattacken erwehren können. Aber nun verließ sie immer häufiger der Mut, und sie lag nur einfach da und wartete auf den Tod. So oft hatte sie im Zorn zu ihrer Mutter gesagt
Ich wollte, ich wäre tot! –
aber jetzt begriff sie erst, was sie da so leichtfertig von sich gegeben hatte. Längst bereute sie bitter, was sie ihrer Mutter aus Trotz und Gleichgültigkeit angetan hatte. Wenn sie nur lebend hier rauskäme, würde sie alles, alles, alles anders machen. Besser. Keine Widerworte mehr geben, nie mehr von zu Hause abhauen oder undankbar sein.
    Es musste einfach ein Happy End geben. Es gab doch immer eins. Meistens auf jeden Fall. Sie fröstelte, als ihr all die Zeitungsnotizen und Fernsehberichte einfielen, in denen es kein glückliches Ende gegeben hatte. Tote Mädchen, im Wald verscharrt, in Kisten eingesperrt, vergewaltigt, zu Tode gefoltert. Verdammt, verdammt, verdammt. Sie wollte nicht sterben, nicht in diesem Drecksloch, in der Dunkelheit, einsam und alleine. Verhungern würde sie so schnell nicht, aber verdursten. Es war nicht mehr viel zu trinken da, sie teilte sich das Wasser mittlerweile in Schlucke ein.
    Plötzlich fuhr sie zusammen. Da waren Geräusche! Das bildete sie sich nicht ein. Schritte, draußen vor der Tür! Sie kamen näher und näher, hörten auf. Dann drehte sich ein Schlüssel quietschend im Türschloss. Amelie wollte aufstehen, aber ihr Körper war steif vor Kälte und von der Feuchtigkeit, die ihr nach den vielen Tagen und Nächten der Dunkelhaft in die Knochen gekrochen war. Ein greller Lichtschein fiel in den Raum, erhellte ihn für ein paar Sekunden und blendete sie. Amelie blinzelte, konnte aber nichts erkennen. Schon ging die Tür wieder zu, der Schlüssel drehte sich mit einem Knirschen, und Schritte entfernten sich. Die Enttäuschung griff mit Krakenarmen nach ihr, hielt sie fest umklammert. Kein frisches Wasser! Plötzlich glaubte sie, Atemzüge zu hören. War da jemand außer ihr im Raum? Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, ihr Herz schlug wie rasend. Wer war das? Ein Mensch? Ein Tier? Die Angst drohte ihr die Luft abzudrücken. Sie presste sich gegen die feuchte Wand. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen.
    »Wer ist da?«, flüsterte sie heiser.
    »Amelie?«
    Ungläubig schnappte sie nach Luft. Ihr Herz machte einen

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