Schneewittchen muss sterben
Selbstmord begangen, weil er sein schlechtes Gewissen nicht mehr ertragen konnte, Tobias Sartorius haben Sie zehn Jahre seines Lebens gestohlen, und Thies haben Sie derart eingeschüchtert, dass er elf Jahre lang auf ein totes Mädchen aufgepasst hat.«
»Ich habe Thies niemals eingeschüchtert.« Claudius Terlinden blickte Pia das erste Mal an diesem Morgen an. In seinen geröteten Augen lag plötzlich ein wachsamer Ausdruck. »Und von welchem toten Mädchen reden Sie?«
»Ach, kommen Sie schon!« Pia schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, dass Sie nicht wussten, was im Keller unter der Orangerie in Ihrem Garten gelegen hat.«
»Nein. Ich war bestimmt zwanzig Jahre nicht mehr dort.«
Pia zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich ihm gegenüber hin.
»Wir haben gestern im Keller unter Thies' Atelier die mumifizierte Leiche von Stefanie Schneeberger gefunden.«
»Was?« In seinen Augen flackerte zum ersten Mal Unsicherheit auf. Die Fassade eiserner Selbstbeherrschung bekam erste feine Risse.
»Thies hatte damals beobachtet, wer die beiden Mädchen getötet hat«, fuhr Pia fort, ohne Terlinden aus den Augen zu lassen. »Jemand hat das erfahren und Thies gedroht, er werde ihn in ein Heim stecken, sollte er jemals einen Ton darüber sagen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie das waren.«
Claudius Terlinden schüttelte den Kopf.
»Thies ist seit heute Nacht aus der Psychiatrie verschwunden, nachdem er mir verraten hat, was er damals gesehen hat.«
»Sie lügen«, entgegnete Terlinden. »Thies hat Ihnen niemals etwas gesagt.«
»Stimmt. Sein Augenzeugenbericht war nonverbal. Er hat Bilder gemalt, die den Tathergang so detailliert darstellen wie Fotos.«
Endlich zeigte Claudius Terlinden eine Reaktion. Seine Pupillen zuckten hin und her, und seine ruhelosen Hände verrieten Nervosität. Pia frohlockte innerlich. Würde dieses Gespräch endlich den Durchbruch bringen, den sie so dringend brauchten?
»Wo ist Amelie Fröhlich?«
»Wer?«
»Ich bitte Sie! Sie sitzen mir schließlich hier gegenüber, weil die Tochter Ihres Nachbarn und Mitarbeiters Arne Fröhlich verschwunden ist.«
»Ach ja, stimmt. Das hatte ich für einen Moment vergessen. Ich weiß nicht, wo das Mädchen ist. Welches Interesse soll ich an Amelie haben?«
»Thies hat Amelie die Mumie von Stefanie gezeigt. Er hat ihr die Bilder gegeben, die er von den Morden gemalt hat. Das Mädchen war dabei, alle dunklen Geheimnisse von Altenhain aufzudecken. Da liegt es doch auf der Hand, dass Ihnen das nicht gefallen konnte.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Dunkle Geheimnisse!« Ihm gelang ein spöttisches Auflachen. »Sie sehen wirklich zu viele Seifenopern! Im Übrigen müssen Sie mich bald gehen lassen. Es sei denn, Sie haben irgendetwas Konkretes in der Hand, was ich allerdings nicht glaube.«
Pia ließ sich nicht beirren. »Sie haben Ihrem Sohn Lars damals geraten, nicht zuzugeben, dass er etwas mit dem Tod von Laura Wagner zu tun hatte, obwohl es sich wahrscheinlich um einen Unfall gehandelt hat. Wir prüfen gerade, ob das für die Verlängerung des Haftbefehls reicht.«
»Weil ich meinen Sohn schützen wollte?«
»Nein. Wegen Behinderung der Justiz. Wegen Falschaussage. Suchen Sie sich etwas aus.«
»Das ist doch alles längst verjährt.« Claudius Terlinden musterte Pia kühl. Er war ein harter Knochen, Pias Zuversicht schwand.
»Wo waren Sie und Gregor Lauterbach, nachdem Sie den Ebony Club verlassen haben?«
»Das geht Sie nichts an. Wir haben das Mädchen nicht gesehen.«
»Wo wären Sie? Weshalb haben Sie Fahrerflucht begangen?« Pias Stimme wurde schärfer. »Waren Sie so sicher, dass niemand wagen würde, Sie anzuzeigen?«
Claudius Terlinden gab keine Antwort. Er ließ sich zu keiner unbedachten Bemerkung provozieren. Oder war er vielleicht wirklich unschuldig? In seinem Auto hatte die Kriminaltechnik keinen Hinweis auf Amelie finden können. Ein Unfall mit Fahrerflucht war kein Grund, den Mann noch länger festzuhalten, und mit der Verjährung der Tatbestände hatte er leider recht. Verdammt.
Er fuhr die ihm inzwischen vertraute Hauptstraße entlang, vorbei an Richters Laden und dem Goldenen Hahn, und bog beim Kinderspielplatz links in die Waldstraße ein. Die Straßenlaternen brannten, es war einer jener Tage, an denen es nicht richtig hell wurde. Bodenstein hegte die Hoffnung, Lauterbach an einem frühen Samstagmorgen zu Hause anzutreffen. Weshalb hatte er Hasse dazu
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