Schneewittchen muss sterben
Freudensprung.
»Thies?«, flüsterte sie und tastete sich an der Wand hoch. Es war gar nicht leicht, in der Dunkelheit das Gleichgewicht zu halten, obwohl sie mittlerweile jeden Quadratmillimeter des Raumes kannte. Mit ausgestreckten Armen machte sie zwei Schritte und zuckte zusammen, als sie einen warmen Körper berührte. Sie hörte die angespannten Atemzüge, umfasste Thies' Arm. Statt vor ihr zurückzuweichen, ergriff er ihre Hand und hielt sie fest.
»Oh Thies!« Plötzlich konnte Amelie die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Was machst du hier? Oh Thies, Thies, ich bin so froh! So froh!«
Sie drängte sich an ihn, schlang ihre Arme um ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihre Knie wurden weich, so groß war ihre Erleichterung, endlich, endlich nicht mehr allein zu sein. Thies ließ sich die Umarmung gefallen. Nicht nur das. Auf einmal spürte sie, dass er sie ebenfalls umarmte. Vorsichtig und ungeübt. Aber dann zog er sie fest an sich und legte eine Wange auf ihr Haar. Und ganz plötzlich war ihre Angst verschwunden.
Wieder weckte ihn das Handy. Diesmal war es Pia, diese gnadenlose Frühaufsteherin, die ihm um zwanzig nach sechs mitteilte, dass Thies Terlinden in der Nacht aus der Psychiatrie verschwunden war.
»Die Oberärztin hat mich angerufen«, erklärte Pia. »Ich bin hier schon in der Psychiatrie und habe mit dem Stationsarzt und der Nachtschwester gesprochen. Sie hat um 23:27 Uhr auf ihrer letzten Runde nach ihm gesehen, da lag er schlafend im Bett. Als sie um 5:12 Uhr das nächste Mal geschaut hat, war er weg.«
»Was haben sie für eine Erklärung?« Bodenstein hatte Mühe, aus dem Bett zu kommen. Nach höchstens drei Stunden Schlaf fühlte er sich wie gerädert. Erst hatte Lorenz bei ihm angerufen, kaum dass er eingeschlafen war. Dann Rosalie, der er nur mit aller Mühe ausreden konnte, sich wieder ins Auto zu setzen und zu ihm zu fahren. Mit einem unterdrückten Stöhnen gelang es ihm, in die Vertikale zu kommen und aufzustehen. Diesmal erreichte er den Lichtschalter an der Tür, ohne irgendwo anzustoßen.
»Keine. Alles wurde abgesucht, er hat sich nirgendwo versteckt. Die Tür seines Zimmers war abgeschlossen. Sieht aus, als hätte er sich in Luft ausgelöst, wie alle anderen auch. Es ist doch zum Kotzen.«
Weder von Lauterbach noch von Nadja von Bredow oder Tobias Sartorius gab es eine Spur, trotz bundesweiter Fahndung in Presse, Funk und Fernsehen.
Bodenstein wankte ins Badezimmer, in dem er nachts noch in weiser Voraussicht die Heizung aufgedreht und das gekippte Fenster geschlossen hatte. Sein Gesicht im Spiegel bot keinen erfreulichen Anblick. Während er Pia weiter zuhörte, rotierten seine Gedanken. Leichtfertig war er davon ausgegangen, dass Thies in der geschlossenen Psychiatrie sicher war, dabei hätte er wissen müssen, in welcher Gefahr der Mann schwebte. Er hätte ihn zum Schutz überwachen lassen müssen! Schon sein zweites schwerwiegendes Versäumnis innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Wenn es so weiterging, war er der Nächste, der mit einer Suspendierung rechnen konnte! Er beendete das Gespräch, zog sich das verschwitzte T-Shirt und die Unterhose aus und duschte ausgiebig. Die Zeit lief ihm davon. Der ganze Fall drohte ihm zu entgleiten. Auf was kam es jetzt in erster Linie an? Wo musste er ansetzen? Nadja von Bredow und Gregor Lauterbach schienen die Schlüsselfiguren in dieser Tragödie zu sein. Sie galt es zu finden.
Claudius Terlinden nahm die Nachricht vom Freitod seines Sohnes Lars ohne äußerliche Regung auf. Nach vier Tagen und drei Nächten in Polizeigewahrsam war seine gelassene Liebenswürdigkeit verstocktem Schweigen gewichen. Bereits am Donnerstag hatte sein Anwalt Protest eingelegt, aber Ostermann war es gelungen, den Richter von einer möglichen Verdunklungsgefahr zu überzeugen. Lange würden sie ihn jedoch nicht mehr festhalten können, sollte es nicht bald stichhaltigere Beweise geben als die Tatsache, dass er für den Zeitraum von Amelies Verschwinden kein Alibi hatte.
»Der Junge war sein Leben lang zu weich«, war Terlindens einziger Kommentar. Mit offenstehendem Hemdkragen, Bartstoppeln und strähnigem Haar besaß er noch so viel Charisma wie eine Vogelscheuche. Vergeblich versuchte Pia sich zu erinnern, was sie an ihm so fasziniert hatte.
»Aber Sie«, sagte sie nun sarkastisch. »Sie sind hart, nicht wahr? Sie sind so hart, dass es Ihnen vollkommen egal ist, was Sie mit Ihren Lügen und Vertuschungen angerichtet haben. Lars hat
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