Schneewittchen muss sterben
eine Fahndung raus«, bestimmte Bodenstein. »Dann muss das Handy geortet werden, sobald das möglich ist. Wo wohnt die Frau?«
»Kriege ich raus.« Ostermann rollte mit dem Stuhl wieder an seinen Schreibtisch und begann zu telefonieren.
»Was ist mit Claudius Terlinden?«, wollte Pia wissen.
»Der muss warten.« Bodenstein ging zur Kaffeemaschine, schwenkte die Kanne, die offenbar noch voll war, und goss sich einen Kaffee ein. Dann setzte er sich auf Behnkes leeren Stuhl. »Viel wichtiger ist Lauterbach.«
Gregor Lauterbach hatte sich am Abend des 6. September 1997 mit Stefanie Schneeberger, der Tochter seiner Nachbarn, auf der Kerb in Altenhain geküsst und war später mit ihr an der Scheune der Sartorius gewesen. Das eine Bild zeigte nicht etwa Nadja im Kampf mit Stefanie, sondern möglicherweise Lauterbach beim Geschlechtsverkehr mit dem Mädchen. Hatte Nadja von Bredow das mitbekommen und später, als sich eine günstige Gelegenheit bot, die verhasste Rivalin mit einem Wagenheber erschlagen? Thies Terlinden hatte beobachtet, was geschehen war. Wer wiederum wusste, dass Thies Augenzeuge der beiden Morde gewesen war? Pias Handy summte. Es war Henning, der bereits dabei war, die mumifizierte Leiche von Stefanie Schneeberger zu untersuchen.
»Ich brauche die Tatwaffe.« Er klang müde und angespannt. Pias Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Es war halb elf und Henning noch im Institut. Ob er Miriam mittlerweile sein pikantes Problem gestanden hatte?
»Kriegst du«, erwiderte sie. »Glaubst du, du kannst an der Mumie noch fremde DNA feststellen? Das Mädchen hatte eventuell kurz vor dem Tod Geschlechtsverkehr.«
»Ich kann es versuchen. Die Leiche ist sehr gut erhalten. Ich schätze, sie hat all die Jahre in diesem Raum bei diesen Temperaturen gelegen, denn sie ist fast überhaupt nicht verwest.«
»Wie schnell können wir ein Ergebnis bekommen? Wir sind hier ziemlich unter Druck.« Das war eine glatte Untertreibung. Nicht nur, dass sie noch immer mit allen Mitteln und jedem verfügbaren Beamten nach Amelie suchten, sie waren auch dabei, zwei elf Jahre alte Mordfälle neu zu untersuchen. Letzteres mit vier Leuten.
»Wann seid ihr das nicht?«, entgegnete Henning. »Ich beeile mich.«
Bodenstein hatte seinen Kaffee ausgetrunken. »Komm«, sagte er zu Pia. »Wir machen weiter.«
Bodenstein blieb erst noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen, als er auf dem Parkplatz vor dem Gutshof seiner Eltern angehalten hatte. Es war kurz nach Mitternacht, er war völlig erschöpft, aber gleichzeitig zu aufgekratzt, um an Schlaf auch nur zu denken. Eigentlich hatte er Felix Pietsch, Jörg Richter und Michael Dombrowski nach der Vernehmung nach Hause schicken wollen, aber dann war ihm gerade noch die wichtigste Frage überhaupt eingefallen: War Laura schon tot gewesen, als sie sie in den Bodentank geworfen hatten? Minutenlang hatten die drei Männer geschwiegen. Plötzlich war ihnen bewusst geworden, dass es nicht mehr nur um Vergewaltigung oder um unterlassene Hilfeleistung ging, sondern um etwas weitaus Schlimmeres. Pia hatte das Verbrechen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, korrekt formuliert: billigende Inkaufnahme des Todes eines Menschen zur Verdeckung einer schweren Straftat. Daraufhin war Michael Dombrowski in Tränen ausgebrochen. Das hatte Bodenstein als Geständnis ausgereicht, er hatte Ostermann beauftragt, sich um Haftbefehle zu kümmern. Was die drei zuvor erzählt hatten, war jedoch mehr als aufschlussreich. Nadja von Bredow hatte sich jahrelang nicht bei ihren Freunden aus Jugendtagen gemeldet. Aber kurz bevor Tobias aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, war sie in Altenhain aufgetaucht und hatte die drei Freunde von früher massiv unter Druck gesetzt, damit sie den Mund hielten. Da keiner von ihnen ein Interesse daran hatte, dass elf Jahre nach ihrer Tat die Wahrheit ans Licht kommen würde, hätten sie sicherlich auch weiter geschwiegen, wäre nicht wieder ein Mädchen verschwunden. Dass sie die Verantwortung für die Verurteilung ihres Freundes trugen, hatte ihr Gewissen über all die Jahre schwer belastet. Selbst als in Altenhain die Hexenjagd auf Tobias begonnen hatte, waren Feigheit und Angst vor den unausweichlichen Konsequenzen zu groß gewesen, um sich selbst der Polizei zu stellen. Jörg Richter hatte Tobias am vergangenen Samstag nicht aus alter Freundschaft angerufen. Nadja hatte ihn gebeten, Tobias an dem Abend zu sich einzuladen und zum Trinken zu animieren. Und das bestätigte
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