Schneewittchen muss sterben
Bodensteins Befürchtungen. Was ihm jedoch am meisten zu denken gab, war Jörg Richters Antwort auf die Frage, weshalb drei erwachsene Männer Nadja von Bredow aufs Wort gehorchten:
»Sie hatte schon damals etwas an sich, was einem Angst einjagen konnte.« Die anderen hatten bestätigend genickt. »Nadja ist nicht ohne Grund da gelandet, wo sie jetzt ist. Wenn sie etwas will, dann kriegt sie das auch. Ohne Rücksicht auf Verluste.«
Nadja von Bredow hatte Amelie Fröhlich als Bedrohung erkannt und das arglose Mädchen in ihre Gewalt gebracht. Dass sie vor Mord nicht zurückschreckte, verhieß nichts Gutes.
In Gedanken versunken saß Bodenstein in seinem Auto. Was für ein Tag! Zuerst die Leiche von Lars Terlinden, der Brand in Thies' Atelier, Hasses unglaubliche Unterstellungen, die Begegnung mit Daniela Lauterbach … Da erinnerte er sich daran, dass er sie später, wenn sie Christine Terlinden die schlimme Nachricht vom Freitod ihres Sohnes beigebracht hatte, noch hätte anrufen sollen. Er holte sein Handy hervor, suchte in der Innentasche seines Mantels, bis er die Visitenkarte der Ärztin gefunden hatte. Mit klopfendem Herzen wartete Bodenstein darauf, ihre Stimme zu hören. Aber vergeblich. Die Mailbox sprang an. Er sprach nach dem Piepton auf das Band und bat um Rückruf, egal um welche Uhrzeit. Vielleicht wäre er im Auto sitzen geblieben, hätte der Kaffee nicht so sehr auf seine Blase gedrückt. Es wurde sowieso Zeit, ins Haus zu gehen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und erschrak fast zu Tode, als plötzlich jemand an die Scheibe klopfte.
»Papa?« Es war Rosalie, seine älteste Tochter.
»Rosi!« Er öffnete die Tür und stieg aus. »Was machst du denn hier?«
»Ich hab gerade Feierabend«, erwiderte sie. »Aber was machst du hier? Warum bist du nicht zu Hause?«
Bodenstein seufzte und lehnte sich ans Auto. Er war todmüde und hatte keine Lust, mit seiner Tochter über seine Probleme zu reden. Den ganzen Tag über hatte er sich von den Gedanken an Cosima ablenken können, aber jetzt fiel das unerträgliche Gefühl des Scheiterns über ihn her.
»Oma hat mir erzählt, dass du schon gestern Nacht hier geschlafen hast. Was ist denn passiert?« Rosalie blickte ihn besorgt an. Im schwachen Licht der einzigen Laterne sah ihr Gesicht gespenstisch blass aus. Warum sollte er ihr nicht die Wahrheit sagen? Sie war alt genug, um zu verstehen, was los war, und würde es früher oder später ohnehin erfahren.
»Deine Mutter hat mir gestern Abend mitgeteilt, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat. Daraufhin habe ich es vorgezogen, für ein paar Tage woanders zu übernachten.«
»Was?« Rosalie verzog ungläubig das Gesicht. »Das ist doch … Nein, das kann ich nicht glauben.«
Ihre Fassungslosigkeit war echt und Bodenstein erleichtert, dass seine Tochter sich nicht als heimliche Komplizin ihrer Mutter erwies.
»Tja«, er hob die Schultern. »Das konnte ich auch erst nicht. Es geht aber wohl schon eine ganze Weile.«
Rosalie stieß ein Schnauben aus, schüttelte den Kopf. Aber mit einem Mal fiel jede erwachsene Attitüde von ihr ab, sie war wieder ein kleines Mädchen, restlos überfordert von einer Wahrheit, die für sie ebenso unbegreiflich war wie für ihn. Bodenstein wollte ihr nicht vorgaukeln, es würde schon alles wieder ins Lot kommen. Zwischen ihm und Cosima würde nichts wieder so werden wie früher. Dazu war die Verletzung, die sie ihm zugefügt hatte, zu schwer.
»Ja und jetzt? Ich meine … wie … wie …« Rosalie brach ab. Ratlos. Hilflos. Auf einmal liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Bodenstein nahm seine schluchzende Tochter in die Arme, drückte seinen Mund in ihr Haar. Er schloss die Augen und seufzte. Wie sehr wünschte er, auch einfach so seinen Tränen freien Lauf lassen, um Cosima, um sich und ihr ganzes Leben weinen zu können!
»Wir werden schon eine Lösung finden«, murmelte er und streichelte ihren Hinterkopf. »Ich muss das auch erst mal verdauen.«
»Aber warum tut sie das?«, schluchzte Rosalie. »Ich versteh das nicht!«
Sie verharrten eine ganze Weile so, dann nahm Bodenstein ihr tränenfeuchtes Gesicht in seine Hände.
»Fahr nach Hause, mein Schatz«, sagte er leise. »Mach dir keine Sorgen. Deine Mutter und ich kriegen das irgendwie wieder auf die Reihe, hm?«
»Aber ich kann dich doch jetzt hier nicht einfach allein lassen, Papa! Und … und bald ist Weihnachten, und wenn du nicht da bist, dann ist das doch kein Familienfest
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