Schneewittchen muss sterben
angestiftet, die alten Protokolle zu vernichten? Welche Rolle hatte er im September 1997 gespielt? Er hielt vor Lauterbachs Haus und stellte verärgert fest, dass entgegen seiner Anordnung weit und breit kein Streifenwagen und auch kein ziviles Polizeifahrzeug zu sehen war. Bevor er mit der Zentrale telefonieren und seinem Ärger Luft machen konnte, öffnete sich das Garagentor, und die Rücklichter eines Autos leuchteten auf. Bodenstein stieg aus und ging hinüber. Sein Herz machte einen Satz, als er Daniela Lauterbach hinter dem Steuer des dunkelgrauen Mercedes erkannte. Sie hielt neben ihm an und stieg aus. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie in der letzten Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte.
»Guten Morgen. Was führt Sie so früh zu mir?«
»Ich wollte Sie fragen, wie es Frau Terlinden geht. Ich habe die ganze Nacht an sie gedacht.« Das war glatt gelogen, aber mitfühlendes Interesse am Zustand der Nachbarin würde Daniela Lauterbach sicher für ihn einnehmen. Er hatte sich nicht getäuscht. Ihre braunen Augen leuchteten auf, ein Lächeln flog über ihr müdes Gesicht.
»Ihr geht es schlecht. Einen Sohn auf diese Weise zu verlieren ist mehr als fürchterlich. Und dann auch noch der Brand in Thies' Atelier und die Leiche im Keller der Orangerie – das war alles zu viel für sie.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich war bei ihr, bis eben ihre Schwester eingetroffen ist, um sich um sie zu kümmern.«
»Ich bewundere wirklich, wie Sie sich für Ihre Freunde und Patienten einsetzen«, sagte Bodenstein. »Menschen wie Sie gibt es nur sehr selten.«
Sein Kompliment schien sie zu erfreuen. Ihr Lächeln kehrte zurück, jenes warme, mütterliche Lächeln, das ein kaum zu unterdrückendes Bedürfnis auslösen konnte, sich auf der Suche nach Trost in ihre Arme zu werfen.
»Manchmal nehme ich am Schicksal anderer mehr Anteil, als gut für mich ist.« Sie seufzte. »Ich kann einfach nicht anders. Wenn ich jemanden leiden sehe, muss ich helfen.«
Bodenstein fröstelte in der eisigen Morgenluft. Sie bemerkte es sofort.
»Ihnen ist kalt. Gehen wir doch ins Haus, wenn Sie noch Fragen an mich haben.«
Er folgte ihr durch die Garage eine Treppe hinauf in eine große Eingangshalle, in ihrer repräsentativen Nutzlosigkeit ein typisches Relikt der achtziger Jahre.
»Ist Ihr Mann auch zu Hause?«, fragte er beiläufig und blickte sich um.
»Nein.« Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie etwas. »Mein Mann ist beruflich unterwegs.«
Falls das eine Lüge war, akzeptierte Bodenstein sie für den Moment. Vielleicht wusste sie aber wirklich nicht, welches Spiel ihr Mann spielte.
»Ich muss dringend mit ihm sprechen«, sagte er. »Wir haben herausgefunden, dass er damals eine Affäre mit Stefanie Schneeberger hatte.«
Der herzliche Ausdruck verschwand schlagartig von ihrem Gesicht, sie wandte sich ab.
»Das weiß ich«, gab sie zu. »Gregor hat es mir damals gestanden, allerdings erst, als das Mädchen verschwunden war.« Es fiel ihr offensichtlich schwer, über die Untreue ihres Mannes zu sprechen.
»Er sorgte sich, dass man ihn bei seinem … Schäferstündchen in Sartorius' Scheune gesehen haben und ihn verdächtigen könnte.« Bitterkeit lag in ihrer Stimme. Ihr Blick war düster. Die Kränkung schmerzte noch immer und erinnerte Bodenstein unwillkürlich an seine eigene Situation. Daniela Lauterbach mochte ihrem Mann nach elf Jahren vergeben haben, vergessen hatte sie die Demütigung ganz sicher nicht.
»Aber warum ist das jetzt wichtig?«, fragte sie verwirrt.
»Amelie Fröhlich hatte sich mit den Ereignissen von früher beschäftigt und muss das herausgefunden haben. Falls Ihr Mann das wusste, kann er Amelie als Bedrohung empfunden haben.«
Daniela Lauterbach starrte Bodenstein ungläubig an.
»Sie verdächtigen doch nicht etwa meinen Mann, etwas mit dem Verschwinden von Amelie zu tun zu haben?«
»Nein, wir verdächtigen ihn nicht«, beschwichtigte Bodenstein sie. »Aber wir möchten dringend mit ihm reden. Er hat nämlich etwas getan, was strafrechtliche Folgen für ihn haben könnte.«
»Darf ich wissen, was das sein soll?«
»Ihr Mann hat einen Mitarbeiter von mir dazu gebracht, die Vernehmungsprotokolle von 1997 aus den Akten zu entfernen.«
Diese Nachricht versetzte ihr offenbar einen Schock. Sie wurde blass.
»Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben. Weshalb sollte er das tun?«
»Das würde ich gerne von ihm wissen. Also, wo kann ich ihn
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