Schneewittchen muss sterben
Kinder miteinander haben, ohne denjenigen wirklich zu kennen. Oft genug hatte es Fälle gegeben, in denen nichtsahnende Angehörige jahrelang mit Mördern, Pädophilen und Vergewaltigern zusammengelebt hatten und aus allen Wolken fielen, als sie die schreckliche Wahrheit erfuhren.
Bodenstein fuhr an Fröhlichs Haus und der rückwärtigen Einfahrt des Sartorius-Hofes vorbei bis zum Wendehammer am Ende der Waldstraße und bog in die Auffahrt der Terlindens ein. Eine Frau öffnete ihm die Haustür. Das musste die Schwester von Christine Terlinden sein, auch wenn er keine Ähnlichkeit feststellen konnte. Die Frau war groß und schlank; die Art, wie sie ihn musterte, zeugte von Selbstbewusstsein.
»Ja?« Der Blick aus grünen Augen war direkt und prüfend. Bodenstein stellte sich vor und äußerte den Wunsch, mit Christine Terlinden sprechen zu dürfen.
»Ich hole sie«, sagte die Frau. »Ich bin übrigens Heidi Brückner, die Schwester von Christine.«
Sie musste mindestens zehn Jahre jünger sein und wirkte im Gegensatz zu ihrer Schwester vollkommen ungekünstelt. Das glänzende braune Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, ihr glattes, ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen war ungeschminkt. Sie ließ ihn ein und schloss die Haustür hinter ihm.
»Warten Sie bitte hier.«
Sie ging davon, blieb eine ganze Weile verschwunden. Bodenstein betrachtete eingehend die Gemälde an den Wänden, die unzweifelhaft auch von Thies stammten. Sie ähnelten den Bildern im Büro von Daniela Lauterbach in ihrer grauenhaft apokalyptischen Düsternis: verzerrte Gesichter, schreiende Münder, gefesselte Hände, Augen voller Angst und Qual. Schritte kamen näher, er wandte sich um. Christine Terlinden sah aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Perfekt frisiertes Blondhaar, ein unbeteiligtes Lächeln auf einem faltenlosen Gesicht.
»Mein herzliches Beileid«, sagte Bodenstein und reichte ihr die Hand.
»Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Sie schien ihm nicht nachzutragen, dass er ihren Mann seit Tagen festhalten ließ. Und auch der Suizid ihres Sohnes war äußerlich spurlos an ihr vorübergegangen, genauso wie der Brand des Ateliers und der Fund der Mumie von Stefanie Schneeberger. Erstaunlich. War sie eine Meisterin der Verdrängung, oder stand sie unter so starken Beruhigungsmitteln, dass sie das alles noch gar nicht realisiert hatte?
»Thies wird seit heute Morgen im Krankenhaus vermisst«, sagte er. »Er ist nicht zufällig nach Hause gekommen?«
»Nein.« Das klang beunruhigt, aber nicht über die Maßen besorgt. Man hatte sie auch noch nicht benachrichtigt, was Bodenstein eigenartig fand. Er bat sie, mehr über Thies zu erzählen, und ließ sich in dessen Zimmer im Souterrain führen. Heidi Brückner folgte ihnen in einigem Abstand, stumm und aufmerksam.
Thies' Zimmer war freundlich und hell. Da das Haus am Hang lag, erlaubten große Fensterscheiben einen schönen Ausblick über das Dorf. In Regalen standen Bücher, Stofftiere saßen auf einer Couch. Das Bett war gemacht, nichts lag herum. Das Zimmer eines zehnjährigen Jungen, nicht das eines dreißigjährigen Mannes. Außergewöhnlich waren nur die Bilder an den Wänden. Thies hatte seine Familie porträtiert. Und hier offenbarte sich, welch großartiger Künstler er wirklich war. Er hatte in den Porträts nicht nur die Gesichter der Menschen eingefangen, sondern auf eine subtile Art auch deren Persönlichkeit. Claudius Terlinden lächelte auf den ersten Blick freundlich, aber seine Körperhaltung, der Ausdruck seiner Augen und die Farben im Hintergrund gaben dem Bild etwas Bedrohliches. Die Mutter war rosig und hell gemalt, gleichzeitig flach und zweidimensional. Ein Bild ohne Tiefe für eine Frau ohne echte Persönlichkeit. Bemerkenswert. Das dritte Bild hielt Bodenstein zuerst für ein Selbstporträt, bis er sich daran erinnerte, dass Lars der Zwillingsbruder von Thies gewesen war. Es war ganz anders gemalt, beinahe verschwommen, und zeigte einen jungen Mann mit noch unfertigen Gesichtszügen und unsicheren Augen.
»Er ist hilflos«, antwortete Christine Terlinden auf Boden steins Frage, wie Thies so sei. »Er kann sich im Leben nicht alleine zurechtfinden, und er hat nie Geld bei sich. Auto fahren kann er auch nicht. Wegen seiner Krankheit durfte er den Führerschein nicht machen, und das ist auch besser so. Er kann Gefahren nicht einschätzen.«
»Und Menschen?« Bodenstein sah Christine Terlinden an.
»Wie meinen Sie das?« Sie lächelte
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