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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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finden? Wenn er sich nämlich nicht umgehend bei uns meldet, müssen wir ihn öffentlich zur Fahndung ausschreiben. Und das möchte ich ihm in seiner Position gerne ersparen.«
    Daniela Lauterbach nickte. Sie holte tief Luft, behielt mit eiserner Beherrschung ihre Emotionen unter Kontrolle. Als sie Bodenstein wieder anblickte, war ein anderer Ausdruck in ihre Augen getreten. War es Furcht oder Zorn – oder beides?
    »Ich werde ihn anrufen und ihm das mitteilen«, sagte sie, angestrengt darum bemüht, ihren Worten einen gleichmütigen Klang zu geben. »Da muss ein Missverständnis vorliegen, ganz sicher.«
    »Das glaube ich auch«, pflichtete Bodenstein ihr bei. »Aber je schneller wir das geklärt haben, umso besser.«
    Lange hatte er nicht mehr so tief und wunderbar traumlos geschlafen wie letzte Nacht. Tobias wälzte sich auf den Rücken und setzte sich gähnend auf. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo er war. Gestern Abend waren sie erst spät hier oben angekommen. Nadja hatte trotz heftiger Schneefälle die Autobahn bei Interlaken verlassen. Irgendwann hatte sie angehalten, Schneeketten angelegt und war unverdrossen weitergefahren, die steile Serpentinenstraße hinauf, höher und immer höher. Er war so müde und erschöpft gewesen, dass er das Innere der Hütte kaum wahrgenommen hatte. Auch Hunger hatte er keinen gehabt, war nur hinter ihr eine Leiter hinaufgeklettert und hatte sich ins Bett gelegt, das die gesamte Fläche der Empore einnahm. Kaum hatte sein Kopf das Kopfkissen berührt, war er schon eingeschlafen. Kein Zweifel, der tiefe Schlaf hatte ihm gutgetan.
    »Nadja?«
    Keine Antwort. Tobias kniete sich hin und blickte aus dem winzigen Fenster über dem Bett. Ihm stockte der Atem, als er den tiefblauen Himmel erblickte, den Schnee und das beeindruckende Bergpanorama im Hintergrund. Er war noch nie in den Bergen gewesen; Skiurlaub hatte es in seiner Kindheit und Jugend ebenso wenig gegeben wie Urlaub am Meer. Plötzlich konnte er es kaum noch erwarten, den Schnee zu spüren. Er kletterte die Leiter nach unten. Die Hütte war klein und gemütlich, mit Holz verkleidete Wände und Decke, eine Eckbank mit gedecktem Frühstückstisch. Es duftete nach Kaffee, und im Kamin knackten Holzscheite im Feuer. Tobias lächelte. Er schlüpfte in Jeans, Pullover, Jacke und Schuhe, stieß die Tür auf und trat ins Freie. Einen Augenblick lang verharrte er, geblendet von der gleißenden Helligkeit. Tief sog er die glasklare, eisige Luft in seine Lungen. Ein Schneeball traf ihn mitten im Gesicht.
    »Guten Morgen!« Nadja lachte und winkte. Sie stand ein paar Meter unterhalb der Treppe und strahlte mit Schnee und Sonne um die Wette. Er grinste, sprang die Treppenstufen hinunter und versank bis über die Knie im pulverigen Schnee. Sie kam ihm entgegen, ihre Wangen waren gerötet, ihr Gesicht so schön wie nie unter der pelzbesetzten Kapuze.
    »Wow, ist das toll hier!«, rief er begeistert.
    »Gefällt es dir?«
    »O ja! So was kenne ich ja nur aus dem Fernsehen.«
    Er stapfte um die Hütte herum, die sich mit ihrem tiefgezogenen Dach an den steilen Hang schmiegte. Der meterdicke Schnee knirschte unter seinen Schuhen. Nadja ergriff seine Hand.
    »Schau«, sagte sie. »Da drüben, das sind die bekanntesten Gipfel der Berner Alpen: die Jungfrau, der Eiger und der Mönch. Ach, ich liebe diesen Anblick.«
    Dann wies sie hinunter ins Tal. Ganz unten, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, lagen Häuser dicht aneinandergedrängt, und ein Stück weiter unten glitzerte blau ein langgestreckter See in der Sonne.
    »Wie hoch sind wir hier?«, fragte er neugierig.
    »1800 Meter. Über uns gibt es nur noch Gletscher und Gemsen.«
    Sie lachte, schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn mit kalten, weichen Lippen. Er hielt sie fest, erwiderte ihren Kuss. Ihm war so leicht und frei zumute, als hätte er die Sorgen der vergangenen Jahre irgendwo ganz weit unten in den Tälern zurückgelassen.
    Der Fall nahm ihn so sehr in Anspruch, dass ihm keine Zeit blieb, über seine eigene Misere nachzugrübeln. Darüber war er froh. Seit Jahren wurde Bodenstein beinahe täglich mit menschlichen Abgründen konfrontiert, und zum ersten Mal erkannte er Parallelen zu sich selbst, vor denen er früher die Augen verschlossen hatte. Daniela Lauterbach schien so wenig über ihren Mann zu wissen, wie er über Cosima wusste. Es war erschreckend, aber man konnte offenbar fünfundzwanzig Jahre mit einem Menschen zusammen sein, in einem Bett schlafen und

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