Schneewittchen muss sterben
der chemischen Keule zu lösen, als den mühsamen Weg über eine Therapie zu gehen.« Heidi Brückner sprach mit gedämpfter Stimme, aber der Zorn in ihren Worten war unüberhörbar. »Meine Schwester ist ihr Leben lang den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Als die Zwillinge klein waren, war sie lieber mit ihrem Mann unterwegs, als sich um die Kinder zu kümmern. Thies und Lars haben in ihrer frühen Kindheit eine extreme Vernachlässigung erfahren. Hausmädchen, die kein Wort Deutsch sprechen, sind ja wohl kaum der richtige Ersatz für eine Mutter.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Heidi Brückner blähte die Nasenflügel.
»Dass das Problem von Thies hausgemacht ist«, antwortete sie. »Es war schnell klar, dass er Schwierigkeiten hatte. Er war aggressiv, neigte zu Wutausbrüchen und gehorchte nicht. Bis er vier oder fünf Jahre alt war, sprach er kein Wort. Mit wem auch? Seine Eltern waren so gut wie nie da. Claudius und Christine haben nie versucht, dem Jungen mit Therapien zu helfen, sie haben schon immer auf Medikamente gesetzt. Wochenlang wurde Thies völlig ruhiggestellt, er saß nur teilnahmslos herum. Kaum setzten sie dann die Medikamente ab, flippte er aus. Sie schafften ihn in die Kinderpsychiatrie und ließen ihn jahrelang dort. Ein Drama. Der Junge ist sensibel und hochbegabt und musste zwischen geistig Behinderten leben!«
»Wieso hat nie jemand eingegriffen?«, wollte Bodenstein wissen.
»Wer denn?« Das klang sarkastisch. »Thies hatte ja nie Kontakt zu normalen Menschen oder Lehrern, die vielleicht gemerkt hätten, was mit ihm los ist.«
»Sie meinen, dass er gar kein Autist ist?«
»Doch, das schon. Aber der Autismus ist keine klar definierte Krankheit. Das reicht von wirklich schwerer geistiger Behinderung bis zu leichten Ausprägungen des Asperger-Syndroms, bei denen die Erkrankten durchaus in der Lage sind, ein eigenständiges, wenn auch eingeschränktes Leben zu führen. Viele erwachsene Autisten lernen, mit ihren Eigenarten zurechtzukommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Thies ist ein Opfer seiner egoistischen Eltern. Und Lars ist es nun auch geworden.«
»Ach?«
»Lars war als Kind und Jugendlicher extrem schüchtern. Er bekam kaum den Mund auf. Dazu war er tief religiös, er wollte Priester werden«, erklärte Heidi Brückner sachlich. »Da Thies kaum die Firma übernehmen würde, setzte Claudius all seine Hoffnungen auf Lars. Er verbot ihm das Theologiestudium, schickte ihn nach England und ließ ihn dort Betriebswirtschaft studieren. Lars war niemals wirklich glücklich. Und jetzt ist er tot.«
»Wieso haben Sie nicht eingegriffen, wenn Sie das alles wussten?«, fragte Bodenstein befremdet.
»Ich habe es versucht, vor vielen Jahren.« Sie hob die Schultern. »Da mit meiner Schwester nicht zu reden war, sprach ich mit Claudius. Es war 1994, ich erinnere mich genau, denn ich war gerade aus Südostasien zurückgekommen, da hatte ich als Entwicklungshelferin gearbeitet. Es hatte sich hier viel verändert. Wilhelm, der ältere Bruder meines Schwagers, war ein paar Jahre zuvor gestorben, Claudius hatte die Firma übernommen und war in diesen Riesenkasten hier gezogen. Ich wäre gerne eine Weile geblieben, um Christine etwas unter die Arme zu greifen.«
Sie schnaubte verächtlich.
»Claudius war das nicht recht. Er hat mich nie leiden können, weil er mich nicht einschüchtern und beherrschen konnte. Ich blieb zwei Wochen und beobachtete das Drama. Meine Schwester trieb sich auf Golfplätzen herum, überließ die Fürsorge für die Jungen einem Hausmädchen aus dem Dorf und dieser Daniela. Eines Tages kam es zwischen Claudius und mir zu einem heftigen Streit. Christine war auf Mallorca, wie so oft. Das Haus einrichten.« Heidi Brückner lachte geringschätzig. »Das war ihr wichtiger als ihre Söhne. Ich hatte einen Spaziergang gemacht, war durchs Souterrain unbemerkt wieder ins Haus gekommen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich ins Wohnzimmer kam und meinen Schwager mit der Tochter seiner Haushälterin überraschte. Das Mädchen war höchstens vierzehn oder fünfzehn …«
Sie brach ab, schüttelte angewidert den Kopf bei der Erinnerung an dieses Ereignis. Bodenstein lauschte aufmerksam. Ihre Darstellung deckte sich mit dem, was Claudius Terlinden selbst erzählt hatte – bis auf einen entscheidenden Punkt.
»Er war auf hundertachtzig, als ich ins Wohnzimmer kam und ihn anschrie. Das Mädchen rannte weg. Claudius stand vor mir mit heruntergelassener Hose, knallrot im
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