Schneewittchen muss sterben
Wasser, und nun ging dieser Wunsch in Erfüllung, allerdings so ganz anders als erhofft! Thies war aufgewacht. Er saß auf der Matratze, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und wiegte seinen Oberkörper vor und zurück. Sie überlegte fieberhaft, ging zum Regal hinüber und rüttelte daran. Es war zwar rostig, schien aber relativ stabil zu sein. Wer auch immer sie und Thies hier eingesperrt hatte, musste das Wasser aufgedreht haben. Dieser Raum lag offenbar tiefer als der Rest des Kellers. Es gab keinen Abfluss im Boden, und das schmale Oberlicht lag direkt unter der Decke. Wenn das Wasser nun immer weiterlief, würde es irgendwann den Raum überschwemmen. Sie müssten ersaufen wie die Ratten! Amelie blickte sich wild um. Verdammt! Jetzt hatte sie so lange überlebt, ohne durchzudrehen, ohne zu verhungern oder zu verdursten, da würde sie sich nicht einfach so ersäufen lassen! Sie beugte sich über Thies und ergriff energisch seinen Arm.
»Steh auf!«, sagte sie scharf. »Los, Thies! Hilf mir, die Matratze da oben aufs Regal zu legen!«
Zu ihrem Erstaunen hörte er auf, sich hin und her zu wiegen, und stand auf. Gemeinsam gelang es ihnen, die schwere Matratze auf den obersten Regalboden zu wuchten. Vielleicht würde das Wasser ja nicht so hoch steigen, dann waren sie da oben in Sicherheit. Und mit jeder Stunde wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass man sie finden würde. Das laufende Wasser musste doch irgendjemandem auffallen – den Nachbarn, dem Wasserwerk oder wem auch immer! Amelie kletterte auf das Regal, vorsichtig, damit es nicht noch umfiel. Als sie oben angelangt war, streckte sie die Hand nach Thies aus. Hoffentlich würde das alte, rostige Ding sie beide aushalten! Wenig später saß er neben ihr auf der Matratze. Das Wasser bedeckte mittlerweile den Boden des Kellerraumes und strömte mit unverminderter Geschwindigkeit unter der Türritze hindurch. Jetzt blieb ihnen nichts weiter übrig, als zu warten. Amelie verlagerte ihr Gewicht und streckte sich vorsichtig auf der Matratze aus.
»Na ja«, sagte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. »Das hat man vom Wünschen! Ich wollte als Kind immer ein Hochbett haben. Jetzt hab ich's endlich.«
Beate Schneeberger führte Bodenstein und Pia ins Esszimmer und bot ihnen Platz an dem wuchtigen Esstisch an, direkt neben dem mächtigen Kachelofen, der eine behagliche Wärme ausstrahlte. Aus den vielen kleinen Zimmern des ehemaligen Bauernhauses war ein einziger großer Raum geworden, von den Zwischenwänden hatte man nur die Holzbalken stehen lassen. Das Ergebnis wirkte modern und war dennoch erstaunlich gemütlich.
»Bitte warten Sie, bis mein Mann da ist«, sagte Frau Schneeberger. »Ich mache uns einen Tee.«
Sie ging in die Küche, die auch zu allen Seiten offen war. Bodenstein und Pia wechselten einen Blick. Im Gegensatz zu den Wagners, die am Verschwinden ihrer Tochter zerbrochen waren, schien es dem Ehepaar Schneeberger gelungen zu sein, mit den Wunden weiterzuleben und ein neues Leben anzufangen. Die Zwillingsmädchen mussten danach zur Welt gekommen sein.
Keine fünf Minuten später betrat ein großer, hagerer, weißhaariger Mann in kariertem Hemd und blauer Arbeitshose das Esszimmer. Albert Schneeberger reichte erst Pia, dann Bodenstein die Hand, auch er war beherrscht und ernst. Sie warteten, bis Frau Schneeberger den Tee serviert hatte, dann teilte Bodenstein ihnen behutsam alle Details mit. Albert Schneeberger stand hinter dem Stuhl seiner Frau, seine Hände ruhten leicht auf ihren Schultern. Die Trauer der beiden war greifbar, aber auch die Erleichterung, endlich Gewissheit über das Schicksal ihres Kindes zu bekommen.
»Wissen Sie, wer es getan hat?«, fragte Beate Schneeberger.
»Nein, noch nicht mit Bestimmtheit«, entgegnete Bodenstein. »Wir wissen nur, dass es nicht Tobias Sartorius gewesen sein kann.«
»Dann ist er zu Unrecht verurteilt worden?«
»Ja. Es sieht ganz danach aus.«
Eine Weile schwiegen alle. Albert Schneeberger sah nachdenklich durch die großen Fensterscheiben zu seinen beiden Töchtern hinüber, die einträchtig das nächste Pferd putzten.
»Ich hätte mich niemals von Terlinden dazu überreden lassen dürfen, nach Altenhain zu ziehen«, sagte er plötzlich. »Wir hatten eine Wohnung in Frankfurt, suchten aber nach einem Haus auf dem Land, denn Stefanie drohte in der Stadt in zweifelhafte Gesellschaft zu geraten.«
»Woher kannten Sie Claudius Terlinden?«
»Eigentlich kannte ich Wilhelm, seinen älteren
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