Schneewittchen muss sterben
Stall, in dem in großen Laufboxen Kühe mit ihren Kälbern knietief im Stroh standen oder lagen und zufrieden wiederkäuten. Welch ein Anblick, verglichen mit der üblichen Viehhaltung in engen Ständern auf Spaltenböden! Auf dem hinteren Hof putzten zwei acht- oder neunjährige Mädchen gemeinsam ein Pferd, das sich die liebevolle Pflege geduldig gefallen ließ.
»Hallo!«, grüßte Pia die beiden Mädchen. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen und waren unverkennbar die jüngeren Schwestern der toten Stefanie. Dasselbe dunkle Haar, die großen, braunen Augen. »Sind eure Eltern zu Hause?«
»Mama ist da drüben im Stall«, antwortete die eine und wies auf den langgestreckten Anbau hinter dem Kuhstall. »Papa ist mit dem Traktor den Mist wegfahren.«
»Ah ja. Danke.«
Beate Schneeberger fegte gerade die Stallgasse, als Bodenstein und Pia den Pferdestall betraten. Sie blickte auf, als der Jack-Russel-Terrier, der in einer leeren Box nach Mäusen gestöbert hatte, anfing zu bellen.
»Hallo!«, rief Bodenstein und blieb sicherheitshalber stehen. Der Terrier war zwar klein, aber sicher nicht zu unterschätzen.
»Kommen Sie nur näher.« Die Frau lächelte freundlich, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Bobby macht nur Krach. Was kann ich für Sie tun?«
Bodenstein stellte sich und Pia vor. Beate Schneeberger hielt inne. Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Sie war eine schöne Frau, aber Kummer und Leid hatten deutliche Spuren in ihren ebenmäßigen Zügen hinterlassen.
»Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass die Leiche Ihrer Tochter Stefanie gefunden wurde«, sagte Bodenstein.
Frau Schneeberger blickte ihn aus großen, dunklen Augen ruhig an und nickte. Ähnlich wie Lauras Mutter reagierte sie ruhig und gefasst.
»Lassen Sie uns ins Haus gehen«, sagte sie. »Ich rufe meinen Mann an. Er wird in ein paar Minuten da sein.«
Sie lehnte den Besen an eine der Boxentüren und kramte ihr Handy aus der Tasche ihrer Daunenweste.
»Albert«, sagte sie. »Kannst du bitte nach Hause kommen? Die Polizei ist hier. Man hat Stefanie gefunden.«
Amelie wachte auf, weil sie im Traum geglaubt hatte, ein leises Plätschern zu hören. Sie hatte Durst. Entsetzlichen, quälenden Durst. Ihre Zunge klebte am Gaumen, ihr Mund war so trocken wie Papier. Vor ein paar Stunden hatten Thies und sie die letzten beiden Kekse gegessen und das letzte Wasser getrunken, jetzt war nichts mehr da. Amelie hatte schon davon gehört, dass sich Menschen vor dem Verdursten gerettet hatten, indem sie ihren eigenen Urin tranken. Der schmale Lichtstreifen unter der Decke sagte ihr, dass außerhalb ihres Gefängnisses Tag war. Sie erkannte die Umrisse des Regals auf der anderen Seite des Kellerraumes. Thies lag zusammengerollt neben ihr auf der Matratze, den Kopf in ihrem Schoß, und schlief tief und fest. Wie war er hierhergekommen? Wer hatte sie beide hier eingesperrt? Und wo waren sie überhaupt? Amelies Verzweiflung wuchs. Am liebsten hätte sie geweint, aber sie wollte Thies nicht aufwecken, auch wenn ihr Bein unter dem Gewicht seines Kopfes schon ganz taub geworden war. Sie fuhr sich mit der trockenen Zunge über die ausgetrockneten Lippen. Da! Wieder das leise Glucksen und Plätschern! Als ob irgendwo ein Wasserhahn liefe. Wenn sie hier rauskäme, das schwor sie sich, würde sie nie mehr verschwenderisch mit Wasser umgehen. Früher hatte sie halbvolle Colaflaschen einfach ausgegossen, wenn die Cola schal geworden war. Was gäbe sie jetzt für einen Schluck lauwarme, abgestandene Cola!
Ihr Blick wanderte durch den Raum, fiel auf die Tür. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, dass tatsächlich Wasser unter der Türritze hindurchsickerte. Aufgeregt schob sie Thies von sich, fluchte, als ihr eingeschlafenes Bein ihr nicht gehorchen wollte. Auf allen vieren kroch sie über den Boden, der schon nass war. Wie ein Hund leckte sie gierig das Wasser auf, benetzte ihr Gesicht und lachte. Der liebe Gott hatte ihre verzweifelten Gebete gehört. Er ließ sie nicht verdursten! Immer mehr Wasser floss unter der Tür hindurch, plätscherte die drei Stufen hinunter wie ein hübscher, kleiner Wasserfall. Amelie hörte auf zu lachen, richtete sich auf.
»Es reicht jetzt mit dem Wasser, lieber Gott«, flüsterte sie, aber Gott hörte nicht. Das Wasser lief immer weiter, bildete schon eine große Lache auf dem nackten Betonfußboden. Amelie begann, am ganzen Körper vor Angst zu zittern. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als
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