Schneewittchen muss sterben
Bruder. Wir hatten zusammen studiert, wurden später Geschäftspartner. Nach seinem Tod lernte ich Claudius kennen. Meine Firma belieferte seine. Zwischen uns entwickelte sich etwas, das ich fälschlicherweise für Freundschaft hielt. Terlinden vermietete uns das Haus in seiner direkten Nachbarschaft, es gehörte ihm.« Albert Schneeberger stieß einen tiefen Seufzer aus und setzte sich neben seine Frau. »Ich wusste, dass er großes Interesse an meiner Firma hatte. Das Know-how und unsere Patente passten ideal in sein Konzept und waren wichtig für ihn. Er war damals gerade dabei, seine Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, um an die Börse zu gehen. Irgendwann machte er mir ein Angebot. Es gab einige Interessenten. Die Konkurrenz für Terlinden war seinerzeit groß.«
Er machte eine Pause, nippte an seinem Tee.
»Dann verschwand unsere Tochter.« Seine Stimme klang sachlich, doch es war nicht zu übersehen, wie schwer es ihm fiel, sich die schrecklichen Ereignisse in Erinnerung zu rufen. »Terlinden und seine Frau waren sehr mitfühlend und aufmerksam. Echte Freunde, wie wir anfangs glaubten. Ich war kaum noch in der Lage, mich um mein Geschäft zu kümmern. Wir suchten mit allen Mitteln nach Stefanie, engagierten uns in den verschiedenen Organisationen, im Radio, im Fernsehen. Als Terlinden mir ein neues Angebot machte, ging ich darauf ein. Die Firma war mir völlig egal, ich konnte nur an Stefanie denken; ich hatte ja immer noch Hoffnung, dass sie wieder auftauchen würde.«
Er räusperte sich, versuchte, die Fassung zu bewahren. Seine Frau legte ihre Hand auf seine, drückte sie leicht.
»Wir handelten aus, dass Terlinden an der Unternehmensstruktur nichts verändern und alle Mitarbeiter weiter beschäftigen würde«, fuhr Schneeberger nach einer Weile fort. »Aber genau das Gegenteil trat ein. Terlinden fand einen Schwachpunkt in den Verträgen. Er ging an die Börse, zerschlug meine Firma, verkaufte alles, was er nicht brauchte, und entließ 80 von 130 Mitarbeitern. Ich war nicht mehr in der Lage, mich zu wehren. Es war … entsetzlich. All diese Menschen, die ich so gut kannte, waren plötzlich arbeitslos. Das alles wäre mir nicht passiert, wenn ich zu dieser Zeit den Kopf frei gehabt hätte.«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Beate und ich beschlossen, Altenhain zu verlassen. Es war für uns unerträglich geworden, direkt neben diesem … diesem Menschen zu wohnen und seine Falschheit hautnah mitzuerleben. Wie er die Leute in seiner Firma und im Dorf unter Druck gesetzt und manipuliert hat, und das alles unter dem Deckmäntelchen der Großherzigkeit.«
»Glauben Sie, dass Terlinden Ihrer Tochter etwas angetan haben könnte, um an Ihre Firma zu kommen?«, fragte Pia.
»Da Sie Stefanies … Leiche auf seinem Grundstück gefunden haben, könnte es durchaus sein.« Schneebergers Stimme schwankte, er presste entschlossen die Lippen zusammen. »Ehrlich gesagt konnten meine Frau und ich uns nie wirklich vorstellen, dass Tobias unserer Tochter etwas angetan haben sollte. Aber dann waren da all die Indizien, die Aussagen. Wir wussten irgendwann selbst nicht mehr, was wir glauben sollten. Zuerst hatten wir Thies im Verdacht. Er folgte Stefanie ja immer wie ein Schatten …«
Er zuckte hilflos die Schultern.
»Ich weiß nicht, ob Terlinden so weit gegangen wäre«, sagte er dann. »Aber er nutzte unsere Situation aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Mann ist ein übler Spekulant und Lügner, ohne jegliches Gewissen. Er geht buchstäblich über Leichen, um zu bekommen, was er will.«
Bodensteins Handy klingelte. Er hatte Pia das Steuer überlassen und nahm den Anruf an, ohne auf das Display zu blicken. Als er unerwartet Cosimas Stimme vernahm, zuckte er zusammen.
»Wir müssen reden«, sagte Cosima. »Vernünftig.«
»Ich habe jetzt keine Zeit«, entgegnete Bodenstein. »Wir sind mitten in einer Vernehmung. Ich melde mich später.«
Damit drückte er das Gespräch einfach weg, ohne ein Wort des Abschieds. Das hatte er noch nie getan.
Sie hatten das Tal verlassen, der freundliche Sonnenschein war wie abgeschnitten, und düsterer, grauer Nebel umgab sie wieder. Schweigend fuhren sie durch Glashütten.
»Was würdest du an meiner Stelle machen?«, fragte Bodenstein plötzlich. Pia zögerte. Sie erinnerte sich lebhaft an ihre Enttäuschung, als sie von Hennings Affäre mit Staatsanwältin Valerie Löblich erfahren hatte. Dabei hatten sie zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als
Weitere Kostenlose Bücher