Schneewittchen muss sterben
Gesicht. Leugnen war kaum mehr möglich. Und plötzlich stand auch Lars da. Ich vergesse nie im Leben seinen Gesichtsausdruck. Sie können sich denken, dass ich seit diesem Tag hier nicht mehr erwünscht war. Christine hatte nie den Mumm, gegen ihren Mann aufzubegehren. Sie glaubte mir nicht einmal, als ich ihr brühwarm am Telefon erzählte, was ich gesehen hatte. Ich sei neidisch und eine Lügnerin, sagte sie. Wir haben uns heute zum ersten Mal seit vierzehn Jahren wiedergesehen. Und ehrlich gesagt: Ich werde nicht lange bleiben.«
Sie stieß einen Seufzer aus.
»Ich habe immer versucht, meine Schwester zu entschuldigen«, sprach sie nach einer Weile weiter. »Vielleicht auch, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Insgeheim habe ich immer befürchtet, dass es eines Tages zu einer Katastrophe kommen würde, aber so etwas habe ich dann doch nicht erwartet.«
»Und jetzt?«
Heidi Brückner verstand, was Bodenstein meinte.
»Heute Morgen habe ich endgültig kapiert, dass bloße Familienzugehörigkeit kein Grund ist, jemanden in Schutz zu nehmen. Meine Schwester überlässt alles dieser Daniela, wie früher schon. Was soll ich hier?«
»Sie mögen Frau Dr. Lauterbach nicht?«, fragte Bodenstein.
»Nein. Ich dachte früher schon, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Diese übertriebene Fürsorge für alle und jeden. Und wie sie ihren Mann bemuttert hat – das fand ich eigenartig, fast schon krankhaft.« Heidi Brückner strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht. Bodenstein sah einen Ehering an ihrer linken Hand. Für einen winzigen Augenblick empfand er Enttäuschung und wunderte sich in der gleichen Sekunde über dieses absurde Gefühl. Er kannte die Frau überhaupt nicht und würde sie nach Abschluss der Ermittlungen kaum jemals wiedersehen.
»Seit ich diese Medikamentenberge gesehen habe, halte ich noch weniger von ihr als je zuvor«, fuhr Heidi Brückner fort. »Ich bin zwar keine Apothekerin, aber ich habe mich ausführlich mit Thies' Krankheitsbild beschäftigt. Mir muss diese Frau nichts erzählen.«
»Haben Sie sie noch gesehen, heute Morgen?«
»Ja, sie war kurz hier, um nach Christine zu schauen.«
»Wann sind Sie gekommen?«
»Gestern Abend gegen halb zehn. Ich bin sofort losgefahren, nachdem Christine mich angerufen hatte und mir erzählt hat, was passiert ist. Von Schotten aus brauche ich eine Stunde.«
»Das heißt, Frau Dr. Lauterbach war nicht die ganze Nacht hier?«, erkundigte sich Bodenstein überrascht.
»Nein. Sie kam vorhin gegen halb acht, blieb auf eine Tasse Kaffee und ging wieder. Warum?« Sie blickte ihn aus ihren grünen Augen fragend an, aber Bodenstein blieb ihr eine Antwort schuldig. Wie von selbst fielen die Bruchstücke einzelner Informationen an die richtige Stelle. Daniela Lauterbach hatte ihn angelogen. Und sicher nicht zum ersten Mal.
»Hier ist meine Nummer.« Er reichte ihr eine seiner Visitenkarten. »Und vielen Dank für Ihre Offenheit. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Sehr gerne.« Heidi Brückner nickte und reichte ihm die Hand. Ihr Händedruck war warm und fest. Bodenstein zögerte.
»Ach, falls ich noch eine Frage haben sollte – wie kann ich Sie erreichen?«
Ein winziges Lächeln huschte über ihr ernstes Gesicht. Sie zückte ihr Portemonnaie und entnahm ihm eine Karte, die sie Bodenstein gab.
»Sehr lange werde ich wohl nicht mehr hier sein«, sagte sie. »Sobald mein Schwager nach Hause kommt, wird er mich nämlich auf der Stelle rausschmeißen.«
Nach dem Frühstück waren sie ein paar Stunden lang durch den tiefen Schnee gestapft und hatten die herrliche Aussicht auf die verschneiten Berner Alpen genossen. Dann war urplötzlich das Wetter umgeschlagen, typisch für das Hochgebirge. Der strahlend blaue Himmel hatte sich innerhalb von Minuten zugezogen, und unvermittelt hatte heftiger Schneefall eingesetzt. Hand in Hand waren sie zur Hütte zurückgelaufen, hatten sich atemlos ihrer völlig durchnässten Kleidung entledigt und waren splitternackt die Leiter zur Empore hochgeklettert. Die Hitze des Ofens staute sich unter dem Dach. Eng aneinandergeschmiegt lagen sie auf dem Bett, während der Wind um die Hütte heulte und an den Fensterläden rüttelte. Sie sahen sich an. Ihre Augen waren dicht vor den seinen, er spürte ihren Atem. Tobias strich ihr das Haar aus dem Gesicht und schloss die Augen, als sie an seinem nackten Körper hinabglitt, über seine Haut leckte, ihn mit ihrer Zunge neckte. Der Schweiß brach ihm aus allen
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