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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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weggefahren, hatte ihn zurückgelassen im Nirgendwo der Schweizer Alpen. Stundenlang hatte er nackt auf dem Boden gelegen, unfähig, sich zu bewegen, wie unter Schock. Er hatte gleichzeitig gehofft und gefürchtet, sie würde zurückkommen und ihn holen. Aber das war nicht geschehen.
    Was war überhaupt passiert? Sie hatten einen wunderbaren Tag im Schnee verbracht, unter stahlblauem Himmel, gemeinsam gekocht und gegessen und sich dann leidenschaftlich geliebt. Wie aus heiterem Himmel war Nadja ausgerastet. Aber warum nur? Sie war doch seine Freundin, seine allerbeste, engste, älteste Freundin, die ihn niemals im Stich gelassen hatte. Plötzlich durchzuckte ihn die Erinnerung wie ein gleißender Blitz. »Amelie«, murmelte er mit erstarrten Lippen. Er hatte Amelies Namen erwähnt, weil er sich um sie sorgte, und daraufhin war Nadja ausgerastet. Tobias presste die Fäuste an die Schläfen und zwang sich zum Nachdenken. Allmählich stellte sein benebeltes Gehirn die Zusammenhänge her, die er bis dahin nicht hatte erkennen wollen. Nadja war schon früher in ihn verliebt gewesen, aber er hatte es nie kapiert. Wie sehr musste es ihr weh getan haben, wenn er ihr von jeder Einzelheit seiner zahlreichen Abenteuer berichtet hatte! Aber sie hatte sich nie etwas anmerken lassen, ihm Tipps und Ratschläge gegeben, wie es eben ein guter Kumpel tat. Tobias hob benommen den Kopf. Der Sturm hatte nachgelassen. Er widerstand dem Drang, einfach im Schnee liegen zu bleiben, arbeitete sich keuchend auf die steifen Knie. Er rieb sich die Augen. Tatsächlich! Da unten im Tal konnte er Lichter erkennen! Er zwang sich, weiterzugehen. Nadja war eifersüchtig auf seine Freundinnen gewesen, auch auf Laura und auf Stefanie. Und als sie ihn neulich am Waldrand beiläufig gefragt hatte, ob ihm Amelie gefallen würde, hatte er arglos mit »Ja« geantwortet. Aber wie hätte er auch darauf kommen sollen, dass Nadja, die berühmte Schauspielerin, eifersüchtig auf ein siebzehnjähriges Mädchen sein könnte? Hatte Nadja Amelie etwas angetan? Großer Gott! Die Verzweiflung brachte ihn auf die Füße und trieb ihn talabwärts. Nadja hatte einen Vorsprung von einer Nacht und einem Tag. Wenn Amelie etwas zustieß, dann war er ganz alleine daran schuld, denn er hatte Nadja von Thies' Bildern erzählt und davon, dass Amelie ihm helfen wollte. Er blieb stehen und öffnete den Mund zu einem wilden, zornigen Schrei, der von den Bergen zurückgeworfen wurde. Er schrie, bis seine Stimmbänder schmerzten und seine Stimme versagte.
    Dr. Daniela Lauterbach war wie vom Erdboden verschluckt. In ihrer Praxis wähnte man sie auf dem Ärztekongress in München, aber Nachforschungen ergaben, dass sie dort nie angekommen war. Ihr Handy war ausgeschaltet, ihr Auto unauffindbar. Es war zum Verrücktwerden. In der Psychiatrie hielt man es für möglich, dass Dr. Lauterbach Thies abgeholt hatte. Sie war Belegärztin im Krankenhaus, und es fiel niemandem auf, wenn sie eine Station betrat. An jenem Samstagabend hatte sie keinen Notfalldienst gehabt. Sie hatte den Anruf vorgetäuscht und sich vor dem Schwarzen Ross auf die Lauer gelegt. Amelie kannte sie und war sicherlich ohne jeden Argwohn bei ihr ins Auto gestiegen. Um den Verdacht auf Tobias zu lenken, hatte Daniela Lauterbach Amelies Handy in seine Hosentasche geschoben, als sie ihn später nach Hause gebracht hatte. Es war perfekt eingefädelt, dazu war ihr der eine oder andere Zufall noch zu Hilfe gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, Amelie Fröhlich oder Thies Terlinden lebend zu finden, tendierte gegen null.
    Bodenstein und Pia saßen abends um zehn Uhr im Besprechungsraum und schauten sich das Hessenjournal an, in dem der Fahndungsaufruf nach Dr. Daniela Lauterbach gesendet und von der Verhaftung Nadja von Bredows berichtet wurde. Noch immer lungerten vor dem Kommissariat Reporter und zwei Fernsehteams herum, begierig auf Nachrichten über Nadja von Bredow.
    »Ich glaube, ich fahre nach Hause.« Pia gähnte und streckte sich. »Kann ich dich irgendwohin fahren?«
    »Nein, nein. Fahr nur«, erwiderte Bodenstein. »Ich nehme mir einen von den Dienstwagen.«
    »Bist du so weit okay?«
    »So weit ja.« Bodenstein zuckte die Schultern. »Das wird schon wieder. Irgendwie.«
    Sie warf ihm noch einen zweifelnden Blick zu, dann ergriff sie Jacke und Tasche und ging hinaus. Bodenstein erhob sich und schaltete den Fernseher aus. Den ganzen Tag über hatte er die unerfreuliche Begegnung mit Cosima durch hektische Betriebsamkeit

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