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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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aus seinem Kopf verbannen können, aber jetzt kehrte die Erinnerung in einer üblen, gallebitteren Welle zurück. Wie hatte er nur derart die Beherrschung verlieren können? Er löschte das Neonlicht und ging langsam den Flur entlang zu seinem Büro. Das Gästezimmer im Haus seiner Eltern lockte ihn so wenig wie eine Kneipe. Genauso gut konnte er die Nacht auch hinter seinem Schreibtisch verbringen. Er schloss die Tür hinter sich und stand für einen Moment unschlüssig mitten im Raum, der von der Außenbeleuchtung in ein schwaches Licht getaucht wurde. Er war ein Versager als Mann und als Polizist. Cosima zog ihm einen Fünfunddreißigjährigen vor, und Amelie, Thies und Tobias waren wahrscheinlich längst tot, weil er sie nicht rechtzeitig gefunden hatte. Die Vergangenheit lag in Trümmern hinter ihm, und die Zukunft schien nicht viel rosiger.
    Wenn sie sich herabbeugte und den Arm ausstreckte, konnte sie mit den Fingerspitzen die Wasseroberfläche berühren. Das Wasser stieg viel schneller, als Amelie gedacht hatte, offenbar gab es nirgendwo einen Ablauf. Nicht mehr lange, und sie würden auch hier oben auf dem Regal im Wasser sitzen. Und selbst wenn sie nicht ertranken, weil das Wasser durch das Oberlicht abfloss, dann würden sie erfrieren. Es war nämlich scheißkalt. Zudem hatte sich Thies' Zustand dramatisch verschlechtert. Er zitterte und schwitzte, sein Körper glühte im Fieber. Meistens schien er zu schlafen, den Arm um sie gelegt, aber wenn er wach war, dann redete er. Was er sagte, war so fürchterlich und unheimlich, dass Amelie am liebsten geweint hätte.
    Als ob man den schwarzen Vorhang in ihrem Kopf zur Seite gezogen hätte, war die Erinnerung an die Ereignisse, die sie in dieses Kellerloch geführt hatten, wieder glasklar. Die Lauterbach musste irgendein Gift ins Wasser und in die Kekse getan haben, deshalb war sie jedes Mal eingeschlafen, nachdem sie gegessen oder getrunken hatte. Aber nun wusste sie wieder alles. Sie hatte sie angerufen und auf dem Parkplatz gewartet, freundlich und besorgt, hatte sie gebeten, mit ihr zu Thies zu kommen, es gehe ihm schlecht. Amelie war, ohne zu zögern, in das Auto der Ärztin gestiegen – und in diesem Keller aufgewacht. Sie hatte geglaubt, sie habe in den Abrisshäusern, den Obdachlosenheimen und auf den Straßen Berlins schon alles gesehen, was es an Üblem auf dieser Welt gab, dabei hatte sie keinen blassen Schimmer gehabt, wie grausam Menschen sein konnten. In Altenhain, diesem idyllischen Dörfchen, das sie für so langweilig und öde gehalten hatte, lebten gnadenlose, brutale Monster, getarnt durch Masken spießiger Harmlosigkeit. Sollte sie jemals lebend aus diesem Keller herauskommen, würde sie niemals wieder in ihrem ganzen Leben jemandem vertrauen. Wie konnte ein Mensch einem anderen Menschen so etwas Entsetzliches antun? Warum hatten Thies' Eltern nie erkannt, was die nette, freundliche Nachbarin mit ihrem Sohn gemacht hatte? Wie konnte ein ganzes Dorf schweigend dabei zusehen, wie ein junger Mann für zehn Jahre unschuldig ins Gefängnis ging, während die wahren Täter unbehelligt blieben? In den langen Stunden in der Dunkelheit hatte ihr Thies nach und nach alles erzählt, was er über die schaurigen Ereignisse in Altenhain wusste, und das war eine Menge. Kein Wunder, dass Dr. Lauterbach ihn am liebsten töten wollte. Im gleichen Moment, als sie das dachte, erfüllte Amelie die niederschmetternde Gewissheit, dass genau das eintreten würde. Die Lauterbach war nicht dumm. Sie hatte ganz sicher dafür gesorgt, dass sie hier niemand fand. Oder erst dann, wenn es zu spät war.
    Bodenstein hatte das Kinn in die Hand gestützt und betrachtete das leere Cognacglas. Wie hatte er sich so in Daniela Lauterbach täuschen können? Ihr Mann hatte Stefanie Schneeberger im Affekt erschlagen, aber sie war diejenige gewesen, die seine Tat eiskalt gedeckt und Thies Terlinden über Jahre hinweg bedroht, mit Medikamenten zugedröhnt und eingeschüchtert hatte. Sie hatte zugelassen, dass Tobias Sartorius ins Gefängnis gehen musste und seine Eltern durch die Hölle. Bodenstein griff nach der Flasche Remy Martin, die er irgendwann einmal geschenkt bekommen hatte und die seit über einem Jahr unangebrochen in seinem Schrank stand. Er verabscheute das Zeug, aber ihm war nach etwas Alkoholischem zumute. Den ganzen Tag über hatte er keinen Bissen gegessen, dafür zu viel Kaffee getrunken. In einem Zug leerte er das dritte Glas innerhalb der letzten Viertelstunde und

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