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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Sie befürchten mussten, dass Stefanie Ihrer Frau von Ihrer Affäre erzählen würde. Damit hatte Stefanie Ihnen gedroht. Was sagen Sie dazu?«
    »Er sagt gar nichts dazu«, antwortete sein Anwalt an Lauterbachs Stelle.
    »Sie hatten Thies Terlinden als Augenzeugen Ihrer Tat in Verdacht und haben ihn unter Druck gesetzt, damit er schweigt.«
    Pias Handy meldete sich. Sie warf einen Blick auf das Display, stand auf und ging ein paar Meter vom Tisch weg. Es war Henning. Er hatte die Medikamente analysiert, die Frau Dr. Lauterbach Thies seit Jahren verschrieben hatte.
    »Ich habe mit einem Kollegen von der psychiatrischen Kardiologie gesprochen«, sagte Henning. »Er kennt sich mit Autismus bestens aus und war schockiert, als ich ihm das Rezept gefaxt habe. Diese Medikamente sind absolut kontraproduktiv für die Behandlung eines Asperger-Erkrankten.«
    »Inwiefern?«, fragte Pia und hielt sich das andere Ohr zu, denn ihr Chef hatte seine Stimme erhoben und feuerte aus allen Kanonen auf Lauterbach und seinen Anwalt, der immer wieder »Kein Kommentar!« dazwischenrief, als befände er sich bereits inmitten der Pressemeute vor dem Gerichtsgebäude.
    »Wenn man Benzodiazepine mit anderen zentral wirkenden Pharmaka wie Neuroleptika und Sedativa kombiniert, verstärkt sich ihre Wirkung wechselseitig. Diese Neuroleptika, die ihr gefunden habt, werden eigentlich bei akuten psychotischen Störungen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen eingesetzt, Sedativa zur Beruhigung und Benzodiazepine zur Angstlösung. Aber Letztere haben noch eine andere Wirkung, die für euch interessant sein könnte: Sie wirken amnestisch. Das bedeutet, dem Patienten fehlt für die Wirkdauer die Erinnerung. Auf jeden Fall gehört dem Arzt, der einem Autisten diese Mittel über einen längeren Zeitraum verschrieben hat, die Approbation entzogen. Das ist mindestens schwere Körperverletzung.«
    »Kann dein Kollege ein Gutachten schreiben?«
    »Ja, ganz sicher.«
    Pias Herz begann vor Aufregung zu klopfen, als sie begriff, was das alles bedeutete. Frau Dr. Lauterbach hatte Thies über elf Jahre hinweg mit bewusstseinsverändernden Drogen vollgestopft, um ihn unter Kontrolle zu halten. Seine Eltern mochten geglaubt haben, die verschriebene Medikation würde ihrem Sohn nützen. Warum Daniela Lauterbach das getan hatte, lag klar auf der Hand. Sie wollte ihren Mann schützen. Aber plötzlich war Amelie aufgetaucht, und Thies hatte seine Medikamente nicht mehr genommen.
    Bodenstein öffnete gerade die Tür; Lauterbach hatte sein Gesicht in den Händen verborgen und schluchzte wie ein kleines Kind, während Dr. Anders seine Aktentasche packte. Ein Beamter kam herein und führte den weinenden Gregor Lauterbach ab.
    »Er hat gestanden.« Bodenstein wirkte äußerst zufrieden. »Er hat Stefanie Schneeberger erschlagen, ob im Affekt oder mit Vorsatz, spielt erst mal keine Rolle. Tobias ist auf jeden Fall unschuldig.«
    »Das wusste ich die ganze Zeit schon«, entgegnete Pia. »Aber wir wissen noch immer nicht, wo Amelie und Thies sind. Wer die beiden aus dem Weg geschafft hat, ist mir jetzt allerdings klar. Wir waren die ganze Zeit auf der falschen Spur.«
    Es war kalt, kalt, kalt. Der eisige Wind heulte und tobte, die Schneeflocken stachen wie winzige Nadeln in sein Gesicht. Er konnte nichts mehr sehen, alles um ihn herum war weiß, und seine Augen tränten so stark, dass er wie blind war. Füße, Nase, Ohren und Fingerspitzen spürte er nicht mehr, er taumelte durch den Schneesturm von einem Katzenauge zum nächsten, um nur ja nicht völlig die Orientierung zu verlieren. Zeitgefühl hatte er längst keines mehr und ebenso wenig Hoffnung auf einen zufällig vorbeikommenden Schneepflug. Warum lief er überhaupt noch weiter? Wo wollte er hin? Es gelang ihm kaum noch, seine zu Eisklumpen gefrorenen Füße in den dünnen Turnschuhen aus dem Schnee zu ziehen, und es bedurfte schier übermenschlicher Anstrengung, sich Schritt für Schritt durch diese weiße Hölle zu kämpfen. Wieder stürzte er, landete auf allen vieren im Schnee. Tränen liefen ihm über das Gesicht und gefroren zu Eis. Tobias ließ sich nach vorne sinken und blieb einfach liegen. Jede Faser seines Körpers schmerzte; sein linker Unterarm, den sie mit dem eisernen Schürhaken getroffen hatte, war völlig taub. Wie eine Wahnsinnige war sie über ihn hergefallen, hatte ihn geschlagen, getreten und angespuckt in einem rasenden, hasserfüllten Zorn. Dann war sie aus der Hütte gelaufen und einfach

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