Schneewittchen muss sterben
Ihre Jeans, ihre Hände, ihre Jacke waren voller Blut. Weiße Schuhe und Hosenbeine tauchten in ihrem Gesichtsfeld auf.
»Gehen Sie zur Seite!«, rief jemand. Sie rutschte ein Stück zurück, blickte auf und begegnete Bodensteins Blick. Es war zu spät. Hartmut Sartorius war tot.
»Ich konnte nichts machen.« Pia schüttelte schockiert den Kopf. »Es ging alles so rasend schnell.«
Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und konnte die Cola, die Bodenstein ihr in die blutverschmierten Hände gedrückt hatte, kaum festhalten.
»Mach dir keine Vorwürfe«, erwiderte Bodenstein.
»Tue ich aber, verdammt. Wo ist Tobias?«
»Er war eben noch da.« Bodenstein blickte sich suchend um. Das Foyer war abgesperrt, dennoch wimmelte es von Menschen. Polizisten, Ärzte mit angespannten, schockierten Mienen und die Beamten vom Erkennungsdienst in ihren weißen Overalls sahen zu, wie gerade die Leiche von Hartmut Sartorius in einen Zinksarg gehoben wurde. Jede Hilfe war für Tobias' Vater zu spät gekommen. Er war nach dem Stoß, den Claudius Terlinden ihm versetzt hatte, offenbar so unglücklich gegen die Glastür gefallen, dass seine Schädeldecke zertrümmert worden war. Niemand hätte dem Mann mehr helfen können.
»Bleib hier sitzen.« Bodenstein legte Pia kurz seine Hand auf die Schulter und erhob sich. »Ich schaue mal nach Tobias und kümmere mich um ihn.«
Pia nickte und starrte auf das klebrige, getrocknete Blut an ihren Händen. Sie richtete sich auf, atmete tief ein und aus. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag und sie konnte wieder klar denken. Ihr Blick fiel auf Claudius Terlinden, der zusammengesunken auf einem Stuhl saß und ins Leere stierte, vor ihm eine Polizistin, die offenbar versuchte, ein Protokoll der Geschehnisse aufzunehmen. Der Tod von Hartmut Sartorius war ein Unfall, daran gab es keinen Zweifel. Terlinden hatte in Notwehr und ohne Tötungsabsicht gehandelt, dennoch schien er allmählich zu begreifen, welche Schuld auf seinen Schultern lastete. Eine junge Ärztin ging vor Pia in die Hocke.
»Soll ich Ihnen etwas zur Beruhigung geben?«, fragte sie besorgt.
»Nein, ich bin okay«, erwiderte Pia. »Aber kann ich mir vielleicht irgendwo die Hände waschen?«
»Ja klar. Kommen Sie mit.«
Pia folgte der Ärztin mit zittrigen Knien. Sie hielt nach Tobias Sartorius Ausschau, sah ihn aber nirgendwo. Wo war er? Wie konnte er dieses entsetzliche Ereignis, den Anblick seines sterbenden Vaters, verkraften? Pia konnte eigentlich auch in Krisensituationen recht gut Distanz und einen kühlen Kopf bewahren, aber das Schicksal von Tobias Sartorius erschütterte sie zutiefst. Nach und nach hatte er alles verloren, was ein Mensch nur verlieren kann.
»Tobi!« Amelie richtete sich in ihrem Bett auf und lächelte ungläubig. So oft hatte sie an ihn gedacht in den letzten schrecklichen Tagen und Nächten, sie hatte in Gedanken mit ihm geredet, sich immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, ihn wiederzusehen. Die Erinnerung an die Wärme in seinen meerblauen Augen hatte sie davon abgehalten, verrückt zu werden, und nun stand er leibhaftig vor ihr. Ihr Herz tat vor Glück einen wilden Satz. »Oh, das freut mich ja, dass du mich besuchen kommst! Ich hab so viel …«
Ihr Lächeln erlosch, als sie im Halbdunkel Tobias' verstörten Gesichtsausdruck bemerkte. Er schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich, kam mit unsicheren Schritten näher und blieb am Fußende ihres Bettes stehen. Er sah entsetzlich aus, totenbleich, mit blutunterlaufenen Augen. Amelie ahnte, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.
»Was ist passiert?«, fragte sie leise.
»Mein Vater ist tot«, flüsterte er heiser. »Es ist eben gerade … unten … im Foyer passiert. Der Terlinden kam uns entgegen … und mein Vater … und er …«
Er verstummte. Sein Atem ging stoßweise, er presste seine Faust gegen den Mund und kämpfte um Selbstbeherrschung. Vergeblich.
»O Gott.« Amelie starrte ihn entsetzt an. »Aber wie … ich meine, warum …«
Tobias verzog das Gesicht zu einer Grimasse, er krümmte sich zusammen, seine Lippen zitterten.
»Papa hat sich auf dieses … Schwein gestürzt.« Seine Stimme war tonlos. »Und er hat ihn … gegen eine Glastür gestoßen …«
Er brach ab. Die Tränen strömten über sein eingefallenes Gesicht. Amelie warf die Bettdecke zurück und streckte die Arme nach ihm aus. Tobias sackte schwer auf den Rand ihres Bettes und ließ zu, dass Amelie ihn an sich zog. Er presste sein
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