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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Gesicht an ihren Hals, sein Körper wurde von wildem, verzweifeltem Schluchzen geschüttelt. Amelie hielt ihn ganz fest. Die Kehle wurde ihr eng, als sie begriff, dass Tobias außer ihr keinen Menschen mehr auf dieser Welt hatte, zu dem er gehen, dem er seinen grenzenlosen Kummer mitteilen konnte.
    Tobias Sartorius war spurlos aus dem Krankenhaus verschwunden. Bodenstein hatte eine Streife zum Haus seiner Eltern geschickt, aber dort war er bisher nicht aufgetaucht. Claudius Terlinden war mit seiner Frau nach Hause gefahren. Ihn traf keine unmittelbare Schuld an Sartorius' Tod, es war ein Unfall gewesen, ein unglücklicher Zufall mit tragischem Ausgang. Bodenstein warf einen Blick auf die Uhr. Heute war Montag, also würde Cosima bei ihrer Mutter sein. Die Bridge-Abende im Hause Rothkirch waren ein verlässliches, jahrzehntealtes Ritual, er konnte also ziemlich sicher sein, ihr nicht zu begegnen, wenn er sich frische Kleider holte, bevor er zurück aufs Kommissariat fuhr. Schmutzig und verschwitzt, sehnte er sich nach einer ausgiebigen Dusche.
    Zu seiner Erleichterung lag das Haus im Dunkeln, nur die kleine Lampe auf der Anrichte im Eingang brannte. Der Hund begrüßte ihn mit überschwenglicher Freude. Bodenstein streichelte ihn und blickte sich um. Alles wirkte so normal und war so schmerzlich vertraut, aber er wusste, dass er hier nicht mehr zu Hause war. Bevor er sentimental werden konnte, ging er entschlossen die Treppe hoch zum Schlafzimmer. Er machte Licht und erschrak, als er Cosima erblickte, die im Sessel am Fenster saß. Sein Herz machte unvermittelt ein paar schnelle Schläge.
    »Warum sitzt du hier im Dunkeln?«, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
    »Ich wollte in Ruhe nachdenken.« Sie blinzelte in die Helligkeit, stand auf und trat hinter den Sessel, als wolle sie vor ihm Schutz suchen.
    »Es tut mir leid, dass ich heute Morgen so die Beherrschung verloren habe«, begann Bodenstein nach kurzem Zögern. »Es … war alles ein bisschen viel für mich.«
    »Schon gut. Ich bin ja selbst schuld dran«, erwiderte Cosima. Sie sahen sich stumm an, bis das Schweigen unbehaglich wurde.
    »Ich bin nur gekommen, um mir ein paar Kleider zu holen«, sagte Bodenstein und verließ das Schlafzimmer. Wie konnte es sein, dass man für einen Menschen, für den man über fünfundzwanzig Jahre nichts als Zuneigung verspürt hatte, plötzlich überhaupt nichts mehr empfand? War es Selbsttäuschung, eine Art seelischer Schutzmechanismus – oder schlicht und einfach der Beweis dafür, dass seine Gefühle für Cosima längst nur noch bloße Gewohnheit gewesen waren? Bei den vielen kleinen Streitereien in den vergangenen Wochen und Monaten war jedes Mal ein Stückchen Zuneigung zu Bruch gegangen. Bodenstein wunderte sich über die Nüchternheit, mit der er die Situation analysierte. Er öffnete den Einbauschrank im Flur und betrachtete nachdenklich die Koffer, die dort standen. Er wollte keinen der Koffer mitnehmen, die Cosima schon rund um die Welt begleitet hatten. Deshalb entschied er sich für zwei eingestaubte, aber nagelneue Hartschalenkoffer, die Cosima zu sperrig fand. Als er an der Tür von Sophias Zimmer vorbeiging, hielt er inne. Für einen kurzen Blick auf die Kleine sollte Zeit genug sein. Er stellte die Koffer ab und betrat das Zimmer, das von einem Lämpchen neben dem Bett erhellt wurde. Sophia schlief friedlich, das Däumchen im Mund, umgeben von ihren Stofftieren. Bodenstein betrachtete seine jüngste Tochter und seufzte. Er beugte sich über das Bett, streckte die Hand aus und berührte leicht das schlafwarme Gesicht des Kindes.
    »Es tut mir leid, meine Süße«, flüsterte er leise. »Aber selbst dir zuliebe kann ich nicht so tun, als wäre nichts geschehen.«
    Wie diese Polizistin mitten in der riesigen Blutlache gekniet hatte, diesen Anblick würde Tobias niemals mehr vergessen. Er hatte gespürt, dass sein Vater tot war, noch bevor jemand dieses endgültigste aller Wörter ausgesprochen hatte. Wie versteinert hatte er dagestanden, taub und gefühllos, hatte sich von Ärzten, Sanitätern, Polizisten zur Seite drängen lassen. In seinem Inneren war nach all den schrecklichen Nachrichten kein Platz mehr für irgendein Gefühl. Wie bei einem Schiff, das mit Wasser vollgelaufen war, hatten sich die letzten schützenden Schotts geschlossen, um zu verhindern, dass es sank.
    Tobias hatte das Krankenhaus verlassen und war losgelaufen. Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten. Er war quer durch den dunklen

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