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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Schneefall hatte eingesetzt. Stumm folgten sie den Reifenspuren, die Terlindens Mercedes hinterlassen hatte. Tobias verlangsamte seine Schritte ein wenig. Amelies Hand fühlte sich eiskalt an in seiner. Sie hatte in den Tagen der Gefangenschaft stark abgenommen und war eigentlich viel zu schwach für eine Aktion wie diese. Aber sie hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Schweigend gingen sie an den großen Werkshallen vorbei. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie, wie im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes das Licht anging. Unten vor dem Eingangsportal stand der schwarze Mercedes im orangefarbenen Schein der Nachtbeleuchtung. Tobias und Amelie huschten über den unbeleuchteten Parkplatz und erreichten den Eingang des Gebäudes.
    »Die Tür ist auf«, wisperte Amelie.
    »Mir wäre es lieber, du würdest hier warten«, sagte Tobias und blickte sie an. Ihre Augen wirkten riesengroß in dem spitzen, blassen Gesicht, sie schüttelte entschlossen den Kopf.
    »Auf keinen Fall. Ich komme mit.«
    »Na gut.« Er holte tief Luft, dann umarmte er sie kurz und heftig. »Danke, Amelie. Danke für alles.«
    »Quatsch nicht rum«, antwortete sie schroff. »Lass uns reingehen.«
    Ein Lächeln flog über sein Gesicht, und er nickte. Sie durchquerten die große Eingangshalle, gingen am Aufzug vorbei und betraten das Treppenhaus, das ebenfalls unverschlossen war. Claudius Terlinden schien keine Einbrecher zu fürchten. Im vierten Stock war Amelie außer Atem und lehnte sich für einen Moment an das Geländer, bis sie wieder Luft bekam. Die schwere Glastür klackte, als Tobias sie öffnete. Er verharrte kurz und lauschte in die dunklen Flure, die nur von kleinen Lämpchen in Fußbodennähe schwach erhellt wurden. Hand in Hand schlichen sie den Flur entlang. Tobias spürte, wie sein Herz vor Aufregung gegen seine Rippen hämmerte. Er blieb stehen, als durch eine halbgeöffnete Tür an der Stirnseite des Flures die Stimme von Claudius Terlinden drang.
    »… beeilen. Wenn es noch stärker schneit, wird die Maschine vielleicht gar nicht starten können.«
    Tobias und Amelie wechselten einen kurzen Blick. Terlinden schien zu telefonieren. Offenbar waren sie gerade noch rechtzeitig gekommen, denn es hörte sich ganz so an, als ob er sich mit dem Flugzeug irgendwohin absetzen wollte. Sie gingen weiter. Plötzlich hörten sie eine zweite Stimme. Amelie fuhr bei ihrem Klang erschrocken zusammen und ergriff Tobias' Hand.
    »Was ist mir dir?«, fragte Dr. Daniela Lauterbach. »Warum stehst du so herum?«
    Die Tür ging ganz auf, heller Lichtschein flutete in den Flur. Tobias gelang es gerade noch rechtzeitig, die Tür eines Büros hinter sich zu öffnen. Er drängte Amelie in die Dunkelheit und blieb mit rasendem Herzklopfen neben ihr stehen.
    »Scheiße, was macht die denn hier?«, flüsterte Amelie fassungslos. »Sie wollte mich und Thies umbringen! Das weiß der Terlinden doch!«
    Tobias nickte angespannt. Er überlegte fieberhaft, wie er die beiden aufhalten konnte. Er musste verhindern, dass sie sich absetzten und für immer verschwanden. Wäre er allein gewesen, hätte er sie einfach zur Rede gestellt. Aber er durfte Amelie unter gar keinen Umständen in Gefahr bringen! Sein Blick fiel auf den Schreibtisch.
    »Versteck dich da drunter«, sagte er leise. Amelie wollte protestieren, aber Tobias blieb stur. Er wartete, bis sie unter den Schreibtisch gekrochen war, dann nahm er den Telefonhörer ab und presste ihn ans Ohr. Im schwachen Schein der Außenbeleuchtung konnte er das Gerät kaum richtig erkennen. Er drückte eine Taste, von der er hoffte, dass es die für eine Amtsleitung war. Und tatsächlich! Das Freizeichen ertönte. Mit bebenden Fingern wählte er die 110.
    Er stand vor dem geöffneten Safe, massierte mit einer Hand gedankenverloren seinen schmerzenden Hals und starrte vor sich hin. Seit diesem Unglück vorhin im Krankenhaus war er völlig durcheinander. Immer wieder glaubte er, sein Herz würde stolpern und für ein paar Schläge aussetzen. Ob das an dem kurzzeitigen Sauerstoffmangel lag? Sartorius war wie ein Berserker auf ihn losgegangen und hatte ihn mit unerwarteter Kraft gewürgt, bis er feurige Punkte vor den Augen gesehen hatte. Für ein paar Sekunden war er sicher gewesen, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Noch niemals zuvor war er körperlich angegriffen worden, der Ausdruck »Todesangst« war für ihn bis heute eine leere Worthülse gewesen. Aber nun wusste er, wie es sich anfühlte, dem Tod ins

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