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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Auge zu blicken. Er konnte sich nicht erinnern, wie es ihm gelungen war, sich aus dem Klammergriff dieses Wahnsinnigen zu befreien, aber plötzlich hatte Sartorius auf dem Boden gelegen, in einer Blutlache. Einfach entsetzlich, absolut entsetzlich! Claudius Terlinden wurde bewusst, dass er noch immer unter Schock stand.
    Sein Blick fiel auf Daniela, die unter seinem Schreibtisch kniete und mit konzentrierter Miene das Gehäuse des Computers wieder zusammenschraubte. Die Festplatte, die sie gegen eine andere getauscht hatte, steckte schon in einem der Koffer. Daniela hatte darauf bestanden, obwohl er es für unnötig hielt. Auf seinem Computer hatte er nichts gespeichert, was für die Polizei von Interesse sein könnte. Alles war anders gekommen, als er es geplant hatte. Im Nachhinein musste Claudius Terlinden sich eingestehen, dass die Vertuschung von Lars' Verstrickung in den Mord an Laura Wagner eine schwerwiegende Fehlentscheidung gewesen war. Er hatte nicht ausreichend bedacht, was es nach sich ziehen würde, wenn er den Jungen aus der Schusslinie nahm. Diese eine an und für sich unbedeutende Entscheidung hatte Dutzende anderer notwendig gemacht; das Geflecht der Lügen war so dicht und unübersichtlich geworden, dass es zu bedauerlichen, aber unvermeidlichen Kollateralschäden gekommen war. Wenn doch diese dummen Bauern nur auf ihn gehört hätten, anstatt auf eigene Faust zu handeln! Nichts wäre geschehen! Aber so war aus dem schmalen Riss, der durch die Rückkehr von Tobias Sartorius entstanden war, rasch ein gewaltiges Loch geworden, ein gähnender, schwarzer Abgrund. Und sein ganzes Leben, seine Regeln, die täglichen Rituale, die ihm Sicherheit gaben – alles wurde von diesem Strudel infernalischer Ereignisse mitgerissen.
    »Was ist mit dir? Warum stehst du so herum?«
    Die Stimme von Daniela riss ihn aus seinen Gedanken. Ächzend kam sie wieder auf die Füße und musterte ihn mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Claudius Terlinden bemerkte, dass er noch immer seine Kehle umklammert hielt, und wandte sich ab. Sie musste seit langem damit gerechnet haben, dass alles auffliegen könnte. Ihr Fluchtplan war perfekt und bis ins kleinste Detail ausgeklügelt. Ihn hingegen hatte es kalt erwischt. Neuseeland! Was sollte er dort? Hier war sein Lebensmittelpunkt, hier, in diesem Dorf, in diesem Gebäude, in diesem Raum! Er wollte nicht aus Deutschland weg, selbst wenn das im ärgsten Fall ein paar Jahre Gefängnis bedeuten konnte. Der Gedanke, mit einer falschen Identität in irgendeinem fremden Land zu sitzen, verursachte ihm Unbehagen, ja Angst. Hier war er jemand, man kannte und respektierte ihn, und sicher würde sich alles wieder beruhigen. In Neuseeland würde er ein Nichts sein, ein namenloser Flüchtling, für immer und ewig.
    Sein Blick wanderte durch den großen Raum. Sollte er das alles heute wirklich zum letzten Mal sehen? Nie mehr sein Haus betreten, die Gräber seiner Eltern und Großeltern auf dem Friedhof besuchen, das vertraute Panorama des Taunus betrachten? Die Vorstellung war unerträglich und trieb ihm tatsächlich die Tränen in die Augen. Er hatte doch so sehr gekämpft, um das Lebenswerk seiner Vorfahren zu noch größerem Erfolg zu führen – und nun sollte er alles stehen und liegen lassen?
    »Mensch, Claudius, jetzt mach schon!« Danielas Stimme klang schneidend. »Es schneit immer stärker draußen! Wir müssen los!«
    Er schob die Unterlagen, die er hier zurücklassen würde, in den Safe. Dabei berührte seine Hand den Kasten, in dem er die Pistole aufbewahrte.
    Ich will nicht weg,
dachte er.
Lieber bringe ich mich um.
    Er erstarrte. Wie war dieser Gedanke in seinen Kopf gekommen? Nie hatte er verstanden, wie jemand so feige sein und einen Selbstmord als einzigen Ausweg sehen konnte. Aber alles war anders geworden, nachdem ihm der Tod ins Gesicht gegrinst hatte.
    »Ist außer uns noch jemand im Gebäude?«, fragte Daniela.
    »Nein«, krächzte Terlinden und zog den Kasten mit der Waffe aus dem Safe.
    »Aber eine der externen Telefonleitungen ist besetzt.« Sie beugte sich über die Telefonanlage, die mitten auf seinem Schreibtisch stand. »Die Nebenstelle 23.«
    »Das ist die Buchhaltung. Da ist niemand mehr.«
    »Hast du hinter dir abgeschlossen, als du reingekommen bist?«
    »Nein.« Er erwachte aus seiner Erstarrung, öffnete den Kasten und betrachtete die Beretta.
    Das Restaurant oberhalb des Opel-Zoos war voll. Es war düster, warm und laut, und das war Pia gerade recht.

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