Schneewittchen muss sterben
chromblitzenden amerikanischen Kühlschrank und erzählte, dass sie das Appartement eigentlich nur als Übernachtungsmöglichkeit erworben habe, wenn sie in Frankfurt drehe – sie könne Hotels nicht leiden –, aber mittlerweile sei es ihr Hauptwohnsitz. Sie schenkte Champagner in zwei Kristallgläser und reichte ihm eins.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist«, lächelte sie.
»Und ich bedanke mich für die Einladung«, erwiderte Tobias, der sich von seinem ersten Schock erholt hatte und ihr Lächeln erwidern konnte.
»Auf dich«, sagte Nadja und stieß mit ihrem Glas sachte gegen seines.
»Nein, auf dich«, antwortete Tobias ernst. »Danke für alles.«
Wie schön sie geworden war! Ihr beinahe androgynes, klares Gesicht mit den süßen Sommersprossen, das früher trotz aller Ebenmäßigkeit immer ein wenig kantig gewirkt hatte, war weicher geworden. Die hellen Augen leuchteten, einige Strähnen ihres honigblonden Haares hatten sich aus dem Knoten gelöst und fielen in den zarten, leicht gebräunten Nacken. Sie war sehr schlank, aber nicht zu dünn. Ihre Zähne zwischen den vollen Lippen waren weiß und regelmäßig, das erfreuliche Ergebnis der verhassten Zahnspange aus Teenagerzeiten. Sie lächelten sich an und nahmen einen Schluck, aber urplötzlich schob sich das Gesicht einer anderen Frau vor das von Nadja. Ja, genau so hatte er mit Stefanie leben wollen, nach Abschluss des Medizinstudiums, wenn er als Arzt gut verdiente. Er war davon überzeugt gewesen, in ihr die Liebe seines Lebens gefunden zu haben, er hatte von einer gemeinsamen Zukunft geträumt, von Kindern …
»Was hast du?«, fragte Nadja. Tobias begegnete ihrem prüfenden Blick.
»Nichts. Wieso?«
»Du hast plötzlich so erschrocken ausgesehen.«
»Weißt du, wie lange ich keinen Champagner mehr getrunken habe?« Er zwang sich zu einem Grinsen, aber die Erinnerung an Stefanie hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt. Noch immer, nach all den Jahren, musste er an sie denken. Nur vier Wochen hatte die Illusion des vollkommenen Glücks damals gedauert, die in einer Katastrophe geendet war. Er verscheuchte die unwillkommenen Gedanken und setzte sich an den Tisch in der Küche, den Nadja liebevoll dekoriert hatte. Es gab mit Ricotta und Spinat gefüllte Tortelloni, perfekt gebratenes Rinderfilet mit Barolosauce, Rucolasalat mit gehobeltem Parmesankäse, dazu einen herrlichen, fünfzehn Jahre alten Pomerol. Tobias stellte fest, dass es entgegen seiner Befürchtung nicht schwierig war, sich mit Nadja zu unterhalten. Sie erzählte von ihrer Arbeit, von witzigen und besonderen Ereignissen und Begegnungen – und das auf eine amüsante Weise, ohne mit dem Erreichten anzugeben. Nach dem dritten Glas Rotwein spürte Tobias dessen Wirkung. Sie verließen die Küche und setzten sich ins Wohnzimmer auf die Ledercouch, sie in eine Ecke, er in die andere. Wie gute, alte Freunde eben. Über dem Kamin hing ein gerahmtes Filmplakat von Nadjas erstem Kinofilm – der einzige Hinweis auf ihren großen Erfolg als Schauspielerin.
»Es ist wirklich unglaublich, was du erreicht hast«, sagte Tobias versonnen. »Ich bin echt wahnsinnig stolz auf dich.«
»Danke schön.« Sie lächelte und zog ein Bein unter sich. »Tja. Wer hätte das damals für möglich gehalten: Die hässliche Nathalie ist heute ein großer Filmstar.«
»Du warst doch nie hässlich«, widersprach Tobias, erstaunt darüber, dass sie sich selbst so gesehen hatte.
»Auf jeden Fall hast du mich nie beachtet.«
Zum ersten Mal an diesem Abend näherte sich ihr Gespräch dem heiklen Thema, das sie bisher beide sorgfältig vermieden hatten.
»Du warst doch immer meine allerbeste Freundin«, sagte Tobias. »Alle anderen Mädchen waren eifersüchtig auf dich, weil ich so viel mit dir zusammen war.«
»Aber geküsst hast du mich nie …«
Sie sagte das in einem neckischen Tonfall, aber plötzlich wurde Tobias klar, dass sie das damals gekränkt haben musste. Kein Mädchen wollte die beste Freundin eines attraktiven Jungen sein, und wenn das in dessen Augen eine noch so große Auszeichnung sein mochte. Tobias versuchte sich zu erinnern, weshalb er sich nie in Nadja verliebt hatte. Vielleicht weil sie so etwas wie eine kleine Schwester für ihn gewesen war? Sie hatten buchstäblich im selben Sandkasten gespielt, waren gemeinsam in den Kindergarten und in die Grundschule gegangen. Ihre Existenz in seinem Leben war eine Selbstverständlichkeit gewesen. Aber jetzt hatte sich etwas verändert.
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