Schneewittchen muss sterben
sollten, dann machte sie sich daran, den Nachbartisch abzuräumen. Sie spürte, dass er jede ihrer Bewegungen mit Blicken verfolgte, und konnte nicht widerstehen, absichtlich ein bisschen mit dem Popo zu wackeln, als sie mit dem Tablett benutzter Gläser zurück zur Küche ging. Hoffentlich waren die Männer ordentlich durstig; sie brannte darauf, noch mehr interessante Dinge zu erlauschen. Bisher war ihr Interesse an der ganzen Angelegenheit der Tatsache entsprungen, dass sie eine Verbindung zwischen sich und einem der Mordopfer festgestellt hatte, aber nachdem sie gestern Tobias Sartorius kennengelernt hatte, gab es für sie eine neue Motivation. Er gefiel ihr.
Tobias Sartorius war sprachlos. Als Nadja ihm erzählt hatte, sie wohne im Karpfenweg am Westhafen in Frankfurt, da hatte er an einen sanierten Altbau im Gutleutviertel gedacht, aber nicht an das, was er nun sah. Auf dem riesigen Areal des ehemaligen Westhafens wenige Blocks südlich des Hauptbahnhofs war ein neuer, exklusiver Stadtteil entstanden, mit modernen Bürogebäuden auf der Landseite und zwölf siebenstöckigen Wohnhäusern auf der ehemaligen Hafenmole, die nun den Namen »Karpfenweg« erhalten hatte. Er hatte sein Auto am Straßenrand abgestellt und ging mit einem Blumenstrauß unterm Arm staunend über die Brücke, die sich über das ehemalige Hafenbecken spannte. Im schwarzen Wasser dümpelten einige Yachten an Bootsanlegestegen. Am späten Nachmittag hatte Nadja bei ihm angerufen und ihn zu sich zum Abendessen eingeladen. Zwar hatte Tobias keine große Lust verspürt, bis in die Stadt zu fahren, aber er schuldete Nadja etwas für die unverbrüchliche Treue, mit der sie ihm in den letzten zehn Jahren beigestanden hatte. Er hatte also geduscht und war um halb acht mit dem Auto seines Vaters losgefahren, nicht ahnend, welche Veränderungen auf ihn warteten. Angefangen hatte es mit einem nagelneuen Kreisel am Tengelmannmarkt in Bad Soden; auch das Main-Taunus-Zentrum war gewachsen. Und in Frankfurt hatte er sich überhaupt nicht mehr zurechtgefunden. Für einen ungeübten Autofahrer wie ihn war die Stadt ein wahrer Alptraum. Er hatte eine Dreiviertelstunde Verspätung, als er nach einigem Suchen das Haus mit der richtigen Hausnummer fand.
»Nimm den Aufzug in den 7. Stock«, tönte Nadjas fröhliche Stimme durch die Sprechanlage. Der Türdrücker summte, und Tobias betrat das Foyer des Hauses, das nobel mit Granit und Glas gestaltet war. Der gläserne Aufzug trug ihn in Sekundenschnelle nach ganz oben, faszinierend der Ausblick über das Wasser zur Frankfurter Skyline, die sich in den letzten Jahren sehr verändert hatte. Neue Hochhäuser schienen dazugekommen zu sein.
»Da bist du ja!« Nadja strahlte ihm entgegen, als er im siebten Stock aus dem Aufzug trat. Unbeholfen überreichte er ihr den in Zellophanhülle verpackten Blumenstrauß, den er an einer Tankstelle erworben hatte.
»Ach, das war doch nicht nötig.« Sie nahm den Blumenstrauß, ergriff seine Hand und führte ihn in die Wohnung, die ihm den Atem stocken ließ. Das Penthouse war gewaltig. Riesige Panoramafenster bis zum glänzenden Parkettfußboden boten spektakuläre Ausblicke zu allen Seiten. Im Kamin prasselte ein Feuer, die warme Stimme von Leonard Cohen rieselte aus unsichtbaren Lautsprechern, raffinierte Beleuchtung und brennende Kerzen verliehen den ohnehin großzügigen Räumen noch mehr Tiefe. Für einen Augenblick war Tobias versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen. Er war kein neidischer Mensch, aber das Gefühl, ein jämmerlicher Versager zu sein, überkam ihn beim Anblick dieser Traumwohnung so heftig wie selten zuvor und schnürte ihm die Kehle zu. Zwischen Nadja und ihm lagen Welten. Was zum Teufel wollte sie von ihm? Sie war berühmt, sie war reich, sie war wunderschön – ganz sicher konnte sie ihre Abende mit anderen wohlhabenden, amüsanten und geistreichen Menschen verbringen statt mit einem verbitterten Exknacki wie ihm.
»Gib mir deine Jacke«, sagte sie. Er zog sie aus und schämte sich sogleich für das billige, abgeschabte Ding. Stolz führte Nadja ihn in die große Wohnküche mit dem Küchenblock in der Mitte. Granit und Edelstahl dominierten, die Geräte waren von Gaggenau. Es duftete verführerisch nach gebratenem Fleisch, und Tobias spürte, wie sich seine Magennerven zusammenzogen. Er hatte den ganzen Tag auf dem Hof geschuftet und den Müll sortiert, gegessen hatte er so gut wie nichts. Nadja nahm eine Flasche Moet & Chandon aus dem
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