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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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tiefsten Inneren zurück wie ein winziger Stachel.
    Wie an jedem Sonntag nach der Kirche hatten sich im Schwarzen Ross die üblichen Verdächtigen versammelt. Der Frühschoppen war reine Männerangelegenheit, die Frauen durften sich daheim um den Sonntagsbraten kümmern. Nicht zuletzt deshalb empfand Amelie die Sonntage in Altenhain als Gipfel der Spießigkeit. Heute war auch der Chef höchstpersönlich anwesend. Unter der Woche kümmerte sich Andreas Jagielski um seine beiden Nobelrestaurants in Frankfurt und überließ die Regie im Schwarzen Ross seiner Frau und seinem Schwager, nur sonntags war er selbst da. Amelie konnte ihn nicht sonderlich leiden. Jagielski war ein massiger Mann mit hervorquellenden Froschaugen und wulstigen Lippen. Nach der Wende war er einer der ersten Ossis in Altenhain gewesen, das hatte Amelie von Roswitha erfahren. Er hatte als Koch im Goldenen Hahn gearbeitet, seinen Arbeitgeber aber bei den ersten Anzeichen des drohenden Niedergangs schnöde im Stich gelassen, um sich niederträchtigerweise als Konkurrenz im Schwarzen Ross niederzulassen. Mit haargenau derselben Karte wie Hartmut Sartorius, aber erheblich günstigeren Preisen und dem Luxus eines großen Parkplatzes, hatte er seinem ehemaligen Chef das Wasser abgegraben und nicht unerheblich zur endgültigen Schließung des Goldenen Hahnes beigetragen. Roswitha hatte bis zum Ende loyal bei Sartorius ausgeharrt und nur widerwillig den Job bei Jagielski angenommen.
    Amelie hatte sich am Morgen mit großer Sorgfalt zurechtgemacht, sämtliche Piercings entfernt, die Haare zu zwei Zöpfen geflochten und dezenteres Make-up aufgetragen. Aus dem Kleiderschrank ihrer Stiefmutter hatte sie sich eine weiße Bluse Größe XXS ausgeliehen und in ihrem eigenen nach einigem Suchen einen sexy kurzen Schottenminirock gefunden. Blickdichte schwarze Strümpfe und wadenhohe Springerstiefel vervollständigten das Outfit. Vor dem Spiegel hatte sie die Bluse, die ihr eigentlich zu klein war, so weit aufgeknöpft, dass man den schwarzen BH und den Ansatz ihrer Brüste sehen konnte. Jenny Jagielski hatte sich nicht provozieren lassen und sie nur kurz gemustert, ihr Mann jedoch hatte einen tiefen Blick in Amelies Dekollete geworfen und ihr anzüglich zugezwinkert. Jetzt hockte er am vollbesetzten runden Stammtisch in der Mitte des Gastraumes, zwischen Claudius Terlinden und Gregor Lauterbach, zwei eher seltenen Gästen im Schwarzen Ross, die sich heute leutselig und volksnah gaben. Auch am Tresen saßen die Männer Ellbogen an Ellbogen, Jenny und ihr Bruder Jörg zapften im Akkord. Manfred Wagner hatte sich wieder erholt, er schien sogar beim Friseur gewesen zu sein, denn sein zotteliger Vollbart war verschwunden, und er sah einigermaßen kultiviert aus. Als Amelie mit einer neuen Runde Weizenbier am Stammtisch ankam, schnappte sie den Namen Tobias Sartorius auf und spitzte die Ohren.
    »… dreist und überheblich wie eh und je«, sagte Lutz Richter gerade. »Es ist eine glatte Provokation, dass er wieder hier aufgetaucht ist.«
    Zustimmendes Gemurmel erklang, nur Terlinden, Lauterbach und Jagielski schwiegen.
    »Wenn er so weitermacht, wird es über kurz oder lang knallen«, fügte ein anderer hinzu.
    »Er bleibt nicht lange hier«, sagte ein Dritter. »Dafür werden wir schon sorgen.«
    Es war Udo Pietsch, der Dachdecker, der das gesagt hatte, und die anderen Männer nickten und murmelten beifällig.
    »Liebe Leute, niemand von euch wird hier für irgendwas sorgen«, schaltete sich Claudius Terlinden ein. »Der Junge hat seine Strafe abgesessen und kann bei seinem Vater wohnen, so lange er will und hier keinen Ärger macht.«
    Die Runde verstummte, niemand wagte ein Widerwort, aber Amelie sah, wie einige der Männer verstohlene Blicke wechselten. Mochte Claudius Terlinden auch eine Diskussion beenden können, gegen die kollektive Abneigung, die man in Altenhain gegen Tobias Sartorius hegte, würde auch er nichts ausrichten.
    »Acht Weizen für die Herren«, machte sich Amelie, der das Tablett allmählich zu schwer wurde, bemerkbar.
    »Ah ja, danke, Amelie.« Terlinden nickte ihr wohlwollend zu, aber plötzlich entgleisten ihm für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge. Er hatte sich sofort wieder im Griff und lächelte ein wenig gezwungen. Amelie begriff, dass ihre veränderte Erscheinung Grund für sein Erstaunen war. Sie lächelte zurück, legte kokett den Kopf schräg und hielt seinem Blick ein wenig länger stand, als anständige Mädchen das tun

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