Schneewittchen muss sterben
Nadja hatte sich verändert. Neben ihm saß nicht mehr Nathalie, die verlässliche, ehrliche, zuverlässige Gefährtin aus Kindertagen. Neben ihm saß eine äußerst anziehende, wunderschöne Frau, die ihm, wie er allmählich begriff, ganz eindeutige Signale sendete. Konnte es tatsächlich sein, dass sie mehr von ihm wollte als Freundschaft?
»Warum hast du nie geheiratet?«, fragte er unvermittelt. Seine Stimme war heiser.
»Weil ich nie den passenden Mann getroffen habe.« Nadja zuckte die Achseln, beugte sich vor und schenkte Rotwein in die Gläser nach. »Mein Job ist ein absoluter Beziehungskiller. Dazu können die meisten Männer eine erfolgreiche Frau nicht vertragen. Und einen eitlen, selbstverliebten Berufskollegen will ich ganz sicher nicht. Das kann nicht gutgehen. Ich fühl mich ganz wohl, so wie es ist.«
»Ich habe deine Karriere verfolgt. Im Knast hat man viel Zeit zum Lesen und zum Fernsehen.«
»Welcher meiner Filme hat dir am besten gefallen?«
»Ich weiß nicht.« Tobias lächelte. »Alle sind gut.«
»Du Schmeichler.« Sie legte den Kopf schief. Eine lose Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. »Eigentlich hast du dich gar nicht verändert.«
Sie zündete sich eine Zigarette an, zog einmal dran und steckte sie Tobias zwischen die Lippen, so wie sie es früher oft getan hatte. Ihre Gesichter waren einander ganz nah. Tobias hob die Hand und berührte ihre Wange. Er spürte ihren Atem warm auf seinem Gesicht, dann ihre Lippen auf seinem Mund. Sie zögerten beide für einen kurzen Moment.
»Es ist schlecht für deinen Ruf, wenn jemand erfährt, dass du einen Exknacki kennst«, flüsterte Tobias.
»Stell dir vor, mein Ruf war mir schon immer egal«, erwiderte sie mit rauer Stimme. Sie nahm ihm die Zigarette aus der Hand und legte sie achtlos hinter sich in den Aschenbecher. Ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten. Er empfand ihr Verlangen wie ein Echo seiner eigenen Begierde und zog sie über sich. Seine Hände glitten über ihre Oberschenkel, umfassten ihre Hüften. Sein Herz schlug schneller, eine Welle der Lust wogte durch seinen Körper, als ihre Zunge in seinen Mund drang. Wann hatte er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen? Er konnte sich kaum daran erinnern.
Stefanie … das rote Sofa
… Ihr Kuss wurde leidenschaftlich. Ohne ihn zu unterbrechen, zerrten sie sich die Kleider vom Leib, liebten sich voller Begierde, stumm und keuchend und ohne jede Zärtlichkeit. Für die würde später Zeit genug sein.
Montag, 10. November 2008
Claudius Terlinden trank seinen Kaffee im Stehen und blickte aus dem Küchenfenster hinunter auf das Nachbarhaus. Wenn er sich beeilte, konnte er das Mädchen wieder mit hinunter an die Bushaltestelle nehmen. Als sein Prokurist Arne Fröhlich ihm vor ein paar Monaten seine fast erwachsene Tochter aus erster Ehe vorgestellt hatte, war es ihm nicht sofort aufgefallen. Die Piercings, die verrückte Frisur und die ausgefallene, schwarze Kleidung hatten ihn irritiert, ebenso wie ihr mürrisches Gesicht und die abweisende Haltung. Aber gestern, im Schwarzen Ross, als sie ihn angelächelt hatte, da hatte ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag getroffen. Das Mädchen ähnelte auf beinahe schon unheimliche Weise Stefanie Schneeberger. Dieselben fein geschnittenen, alabasterblassen Gesichtszüge, der üppige Mund, die dunklen, wissenden Augen – einfach unglaublich!
»Schneewittchen«, murmelte er. In der letzten Nacht hatte er von ihr geträumt, ein eigenartiger, unheilvoller Traum, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf verwirrende Weise vermischt hatten. Als er mitten in der Nacht schweißgebadet aufgewacht war, hatte er einen Moment gebraucht, um zu begreifen, dass es nur ein Traum gewesen war. Hinter sich hörte er Schritte und drehte sich um. Seine Frau erschien in der Küchentür, trotz der frühen Stunde perfekt frisiert.
»Du bist früh auf.« Er ging zur Spüle und ließ heißes Wasser über die Tasse laufen. »Hast du etwas vor?«
»Ich bin um zehn mit Verena in der Stadt verabredet.«
»Schön.« Es interessierte ihn nicht im Geringsten, wie seine Frau ihren Tag herumbrachte.
»Es geht wieder los«, sagte sie in diesem Augenblick. »Gerade, wo etwas Gras über das alles gewachsen ist.«
»Was meinst du?« Terlinden warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Es wäre vielleicht wirklich besser gewesen, Sartorius' wären hier weggezogen.«
»Wo sollen sie denn hin? So eine Geschichte holt einen überall ein.«
»Trotzdem. Es wird Probleme geben.
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