Schneewittchen muss sterben
Die Leute im Dorf wetzen schon die Messer.«
»Das habe ich befürchtet.« Claudius Terlinden stellte seine Kaffeetasse in die Spülmaschine. »Übrigens ist Rita am Freitagabend bei einem Unfall schwer verletzt worden. Jemand soll sie von einer Brücke vor ein fahrendes Auto gestoßen haben.«
»Wie bitte?« Christine Terlinden riss erschüttert die Augen auf. »Woher weißt du das?«
»Ich habe gestern Abend noch kurz mit Tobias gesprochen.«
»Du hast – was? Warum erzählst du mir nichts davon?« Sie sah ihren Mann ungläubig an. Christine Terlinden war auch mit 5 1 Jahren noch immer eine bemerkenswert schöne Frau. Das naturblonde Haar trug sie zu einem modischen Pagenschnitt frisiert. Sie war klein und zierlich und schaffte es, selbst im Morgenmantel elegant zu wirken.
»Weil ich dich gestern Abend nicht mehr gesehen habe.«
»Du redest mit dem Jungen, besuchst ihn im Gefängnis, hilfst seinen Eltern – hast du vergessen, dass er dich damals in die ganze Sache mit hineingezogen hat?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Claudius Terlinden. Sein Blick fiel auf die Küchenuhr an der Wand. Viertel nach sieben. In zehn Minuten würde Amelie das Haus verlassen. »Tobias hat damals der Polizei nur das gesagt, was er gehört hatte. Und eigentlich war es so auch besser, als wenn …« Er hielt inne. »Sei froh, dass alles so gekommen ist. Sonst stünde Lars heute ganz sicher nicht da, wo er steht.«
Terlinden hauchte seiner Frau pflichtschuldig einen Kuss auf die dargebotene Wange.
»Ich muss los. Es kann spät werden heute Abend.«
Christine Terlinden wartete, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Sie nahm eine Tasse vom Bord, stellte sie unter die Espressomaschine und drückte auf den Knopf für einen doppelten Espresso. Mit der Tasse in den Händen trat sie ans Fenster und beobachtete, wie der dunkle Mercedes ihres Gatten langsam die Auffahrt hinunterrollte. Wenig später hielt er vor dem Haus der Fröhlichs, die roten Bremslichter leuchteten in der Dunkelheit des frühen Morgens. Das Nachbarmädchen schien auf ihn gewartet zu haben und stieg nun zu ihm ins Auto. Christine Terlinden zog scharf die Luft ein, ihre Finger krampften sich um die Tasse. Sie hatte es kommen sehen, seit ihr Amelie Fröhlich das erste Mal begegnet war. Die unheilvolle Ähnlichkeit war ihr sofort aufgefallen. Es gefiel ihr nicht, dass das Mädchen eine Freundschaft mit Thies pflegte. Ihren behinderten Sohn aus alldem herauszuhalten war schon damals nicht leicht gewesen. Sollte sich etwa alles wiederholen? Das beinahe vergessene Gefühl hilfloser Verzweiflung machte sich in ihrem Innern breit.
»O nein, lieber Gott«, murmelte sie. »Bitte, bitte nicht noch einmal.«
Das Foto, das Ostermann aus dem Überwachungsvideo vom Bahnsteig herausgeschnitten hatte, war zwar nur in Schwarzweiß und ziemlich grobkörnig, dennoch war der Mann mit der Baseballkappe recht gut zu erkennen. Leider hatte der Winkel der Kamera nicht ausgereicht, um die Vorkommnisse auf der Brücke aufzuzeichnen, aber die glaubhafte Zeugenaussage des vierzehnjährigen Niklas Bender reichte aus, um den Mann, sollte man ihn finden, festnehmen zu können. Bodenstein und Pia waren auf dem Weg nach Altenhain, um das Foto Hartmut Sartorius und seinem Sohn zu zeigen. Aber auch nach mehrfachem Klingeln öffnete niemand.
»Lass uns rüber in den Laden gehen und das Bild dort herumzeigen«, schlug Pia vor. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass dieser Angriff wirklich mit Tobias zusammenhing.«
Bodenstein nickte. Pia besaß eine ähnlich gute Intuition wie seine Schwester und behielt mit ihren Vermutungen oft recht. Den ganzen gestrigen Abend über hatte Bodenstein an das Gespräch mit Theresa gedacht und vergeblich darauf gewartet, dass Cosima ihm erzählen würde, mit wem sie in der Schmiede telefoniert hatte. Wahrscheinlich, so hatte Bodenstein sich eingeredet, war es völlig belanglos gewesen, und Cosima hatte es aus diesem Grunde schon vergessen. Sie telefonierte viel und wurde häufig von ihren Mitarbeitern angerufen, auch sonntags. Heute Morgen beim Frühstück hatte er beschlossen, der Sache keine zu große Bedeutung beizumessen, zumal sich Cosima ihm gegenüber völlig normal verhielt. Heiter und gutgelaunt hatte sie ihm von ihren Plänen für den Tag berichtet: Arbeiten am Film im Schneideraum, Treffen mit dem Sprecher, der den Text des Films sprechen würde, Mittagessen mit dem Team in Mainz. Alles ganz normal. Zum Abschied hatte sie ihn geküsst,
Weitere Kostenlose Bücher