Schneewittchen muss sterben
draußen habe?«
Thies schwieg. Amelie stemmte sich vorsichtig aus der schwankenden Hängematte hoch und ging zu ihm hinüber. Sie warf einen Blick über seine Schulter auf die Leinwand. Ihr klappte der Mund auf, als sie erkannte, was er in den vergangenen zwei Stunden gemalt hatte.
»Boah«, sagte sie beeindruckt und überrascht zugleich. »Das ist ja geil.«
Vierzehn abgegriffene Aktenordner waren aus dem Archiv des Frankfurter Polizeipräsidiums gekommen und standen in Kisten neben Pias Schreibtisch. 1997 hatte es im Main-Taunus-Kreis noch kein eigenes Dezernat für Gewaltdelikte gegeben; im Falle von Mord, Vergewaltigung und Totschlag war bis zur Reform der hessischen Polizei vor ein paar Jahren das K11 in Frankfurt zuständig gewesen. Aber das Aktenstudium musste noch warten, Dr. Nicola Engel hatte für vier Uhr eine dieser nutzlosen Teambesprechungen angesetzt, die sie so sehr liebte.
Es war warm und stickig im Besprechungsraum. Da nichts Spektakuläres auf der Tagesordnung stand, war die Stimmung schläfrig bis gelangweilt. Vor den Fenstern rauschte der Regen vom wolkenverhangenen Himmel, es wurde schon dunkel.
»Das Fahndungsfoto des Unbekannten geht heute an die Presse«, ordnete die Kriminalrätin an. »Irgendjemand wird ihn erkennen und sich melden.«
Andreas Hasse, der am Morgen bleich und wortkarg wieder zum Dienst erschienen war, nieste.
»Warum bleibst du nicht einfach noch zu Hause, bevor du uns hier alle verpestest?«, fuhr ihn Kai Ostermann, der direkt neben ihm saß, gereizt an. Hasse blieb die Antwort schuldig.
»Gibt es sonst noch etwas?« Der aufmerksame Blick von Dr. Nicola Engel wanderte von einem zum anderen, doch ihre Untergebenen mieden wohlweislich direkten Blickkontakt, denn sie schien jedem direkt ins Gehirn blicken zu können. Mit ihrem seismographischen Gespür hatte sie längst die unterschwellige Spannung bemerkt, die in der Luft lag und deren Ursache sie zu ergründen suchte.
»Ich habe mir die Akten des Falles Sartorius kommen lassen«, meldete sich Pia zu Wort. »Irgendwie habe ich das Gefühl, der Angriff auf Frau Cramer könnte im direkten Zusammenhang mit der Freilassung von Tobias Sartorius stehen. Die Leute in Altenhain haben heute alle den Mann auf dem Foto erkannt, dies aber geleugnet. Sie wollen ihn schützen.«
»Sehen Sie das auch so?«, wandte sich Nicola Engel an Bodenstein, der die ganze Zeit abwesend vor sich hin starrte.
»Das ist durchaus möglich.« Bodenstein nickte. »Die Reaktion der Leute war auf jeden Fall seltsam.«
»Gut.« Nicola Engel blickte Pia an. »Sie sehen die Akten durch. Aber halten Sie sich nicht zu lange mit dem alten Kram auf. Wir erwarten ja auch noch die Ergebnisse zu dem Skelett aus der Rechtsmedizin, und das hat dann Vorrang.«
»Tobias Sartorius ist in Altenhain verhasst«, sagte Pia. »Man hat das Haus seines Vaters mit einem Spruch beschmiert, und als wir am Samstag hinkamen, um die Nachricht vom Unfall zu überbringen, standen drei Frauen auf der anderen Straßenseite und haben ihn beschimpft.«
»Ich habe den Kerl damals erlebt.« Hasse räusperte sich ein paarmal. »Dieser Sartorius war ein eiskalter Killer. Ein arroganter, überheblicher Schönling, der allen weismachen wollte, er hätte einen Filmriss gehabt und könnte sich an nichts erinnern. Dabei war die Spurenlage offensichtlich. Er hat gelogen, bis er in den Knast ging.«
»Aber jetzt hat er seine Strafe abgesessen. Er hat ein Recht auf Resozialisierung«, entgegnete Pia. »Und das Verhalten der Dorfleute irritiert mich. Wieso lügen sie? Wen wollen sie schützen?«
»Das glaubst du aus den alten Akten herauslesen zu können?« Hasse schüttelte den Kopf. »Der Kerl hat seine Freundin erschlagen, als sie mit ihm Schluss gemacht hat, und weil seine Exfreundin das beobachtet hatte, musste sie auch sterben.«
Pia wunderte sich über das ungewöhnliche Engagement, das ihr sonst eher gleichgültiger Kollege plötzlich an den Tag legte.
»Das mag ja sein«, erwiderte sie. »Dafür hat er ja auch zehn Jahre gesessen. Aber vielleicht stoße ich in den alten Verhörprotokollen auf denjenigen, der Rita Cramer von der Brücke gestoßen hat.«
»Aber was willst du mit …«, begann Hasse wieder, doch Nicola Engel beendete die Diskussion energisch.
»Frau Kirchhoff sieht die Akten durch, bis es Fakten über das Skelett gibt.«
Da es sonst nichts zu besprechen gab, war die Sitzung beendet. Nicola Engel verschwand in ihr Büro, das versammelte K 11 löste sich
Weitere Kostenlose Bücher