Schneewittchen muss sterben
gewesen, hätte die Friseurin keine Chance gehabt.
»Was ist denn mit dir?«, erkundigte sich Pia leicht verärgert, als sie eine Minute später wieder auf der Straße standen. »Du hättest die Friseurtante doch nur einmal anlächeln müssen, dann wäre sie dahingeschmolzen und hätte dir wahrscheinlich Name, Adresse und Telefonnummer unseres Verdächtigen gegeben.«
»Entschuldige«, erwiderte Bodenstein nur lahm. »Ich bin heute irgendwie nicht richtig bei der Sache.«
Ein Auto rauschte in der engen Straße vorbei, ein zweites, dann ein Lkw. Sie mussten sich an die Hauswand pressen, um nicht von einem Außenspiegel gestreift zu werden.
»Auf jeden Fall lasse ich mir heute Mittag gleich die alten Akten von dem Sartorius-Fall kommen«, sagte Pia. »Ich schwöre dir, das hängt alles zusammen.«
Eine Nachfrage im Blumenladen blieb genauso ergebnislos wie die im Kindergarten und im Sekretariat der Grundschule. Margot Richter hatte ihre Instruktionen bereits weitergegeben. Die Dorfgemeinschaft vollführte einen kollektiven Schulterschluss und übte sich in sizilianisch anmutendem Schweigen, um einen der Ihren zu schützen.
Amelie lag in der Hängematte, die Thies eigens für sie zwischen zwei Topfpalmen angebracht hatte, und ließ sich sanft hin und her wiegen. Vor den Sprossenfenstern rauschte der Regen herab und trommelte auf das Dach der Orangerie, die versteckt hinter einer mächtigen Trauerweide im weitläufigen Park der Terlinden'schen Villa lag. Hier war es warm und behaglich, es roch nach Ölfarbe und Terpentin, denn Thies nutzte das langgestreckte Gebäude, in dem die empfindlichen mediterranen Pflanzen aus dem Park überwinterten, als Atelier. Hunderte von bemalten Leinwänden reihten sich an den Wänden auf, akkurat nach Größe geordnet. In leeren Marmeladegläsern standen Dutzende von Pinseln. Thies war in allem, was er tat, zwanghaft ordentlich. Sämtliche Kübelpflanzen – Oleander, Palmen, Wandelröschen, Zitronen- und Orangenbäumchen – standen nebeneinander wie die Zinnsoldaten, ebenfalls geordnet nach ihrer Größe. Nichts war willkürlich abgestellt. Die Werkzeuge und Geräte, die Thies im Sommer für die Pflege des großen Parks brauchte, hingen an der Wand oder standen in Reih und Glied darunter. Manchmal verrückte Amelie etwas oder ließ mit Absicht eine Zigarettenkippe irgendwo liegen, um Thies damit zu ärgern. Er korrigierte diesen für ihn unerträglichen Zustand jedes Mal unverzüglich. Auch bemerkte er sofort, wenn sie Pflanzen vertauscht hatte.
»Ich finde es total aufregend«, sagte Amelie. »Am liebsten würde ich noch mehr rausfinden, aber ich weiß nicht, wie.«
Sie erwartete keine Antwort, warf aber dennoch einen raschen Blick zu Thies hinüber. Er stand vor seiner Staffelei und malte konzentriert. Seine Bilder waren zum größten Teil abstrakt und in düsteren Farben gehalten, nichts für Wohnungen von depressiven Menschen, wie Amelie fand. Auf den ersten Blick sah Thies ganz normal aus. Wären seine Gesichtszüge nicht so steinern, wäre er sogar ein ziemlich hübscher Mann, mit dem ovalen Gesicht, der geraden, schmalen Nase und dem weichen, vollen Mund. Die Ähnlichkeit mit seiner schönen Mutter war nicht zu übersehen. Er hatte ihr helles Blondhaar geerbt und die großen nordischblauen Augen, umkränzt von dichten, dunklen Wimpern. Am liebsten mochte Amelie aber seine Hände. Thies besaß die sensiblen, feingliedrigen Hände eines Pianisten, denen auch die Gartenarbeit nicht geschadet hatte. Wenn er sich aufregte, führten sie mitunter ein Eigenleben, flatterten hin und her wie aufgescheuchte Vögel in einem Käfig. Jetzt aber war er ganz ruhig, wie fast immer, wenn er malte.
»Ich frage mich«, fuhr Amelie nachdenklich fort, »was Tobias mit den beiden Mädchen wohl gemacht hat. Wieso hat er das nie gesagt? Dann wäre er vielleicht gar nicht so lange im Gefängnis gewesen. Schon komisch. Aber irgendwie gefällt er mir. Er ist so ganz anders als die anderen Typen hier in diesem Kaff.«
Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und gab sich einem behaglichen Gruseln hin. »Ob er sie zerstückelt hat? Vielleicht hat er sie sogar irgendwo auf seinem Hof einbetoniert.«
Thies arbeitete ungerührt weiter, mischte auf seiner Palette ein dunkles Grün mit einem Rubinrot, verwarf das Ergebnis nach kurzem Überlegen und fügte ein wenig Weiß hinzu. Amelie hielt die Hängematte an.
»Findest du mich eigentlich hübscher, wenn ich meine Piercings
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