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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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auf.
    »Ich muss nach Hause«, sagte Bodenstein unvermittelt, nach einem Blick auf seine Uhr. Pia beschloss, ebenfalls heimzufahren und einen Teil der Akten mitzunehmen. Hier würde sich kaum noch etwas Wichtiges ereignen.
    »Soll ich Ihnen den Koffer ins Haus tragen, Herr Minister?«, fragte der Chauffeur, aber Gregor Lauterbach schüttelte den Kopf.
    »Das schaffe ich schon noch.« Er lächelte. »Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen, Forthuber. Morgen früh brauche ich Sie erst um acht.«
    »In Ordnung. Dann noch einen schönen Abend, Herr Minister.«
    Lauterbach nickte und ergriff den kleinen Koffer. Drei Tage war er nicht zu Hause gewesen, erst hatte er Termine in Berlin gehabt, dann die Kultusministerkonferenz in Stralsund, bei der sich die Kollegen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen über die Festlegung der Leitlinien zur Deckung des Lehrkräftebedarfs heftig in die Wolle gekriegt hatten. Er hörte das Telefon klingeln, als er die Haustür aufschloss und mit einem Handgriff die Alarmanlage abschaltete. Der Anrufbeantworter sprang an, aber der Anrufer machte sich nicht die Mühe, aufs Band zu sprechen. Gregor Lauterbach stellte den Koffer vor der Treppe ab, machte Licht und ging in die Küche. Er warf einen Blick auf die Post, die sich auf dem Küchentisch stapelte, von der Putzfrau fein säuberlich in zwei Stapel getrennt. Daniela war noch nicht zu Hause. Wenn er sich recht erinnerte, hielt sie heute Abend einen Vortrag bei einem Ärztekongress in Marburg. Lauterbach ging weiter ins Wohnzimmer und betrachtete eine Weile die Flaschen auf dem Sideboard, bevor er sich für einen zweiundvierzig Jahre alten Black Bowmore Scotch Whisky entschied. Ein Geschenk von irgendjemandem, der sich bei ihm anbiedern wollte. Er schraubte die Flasche auf und goss zwei Fingerbreit in ein Glas. Seit er Kultusminister in Wiesbaden war, trafen er und Daniela sich nur noch zufällig oder um ihre Terminkalender abzugleichen. Im selben Bett schliefen sie seit zehn Jahren nicht mehr. Lauterbach besaß eine geheime Wohnung in Idstein, in der er sich einmal pro Woche mit einer diskreten Geliebten traf. Er hatte ihr von vorneherein unmissverständlich klargemacht, dass er nicht vorhabe, sich jemals von Daniela scheiden zu lassen, und so spielte dieses Thema bei ihren Treffen keine Rolle. Ob Daniela ihrerseits ein Verhältnis hatte, wusste er nicht, und er würde sie nicht danach fragen. Er lockerte seine Krawatte, zog seine Anzugsjacke aus, warf sie nachlässig über die Lehne eines Sofas und nahm einen Schluck Scotch. Das Telefon klingelte erneut. Dreimal, dann übernahm wieder der Anrufbeantworter.
    »Gregor.« Die männliche Stimme hatte einen dringlichen Unterton. »Wenn du da bist, geh bitte dran. Es ist sehr wichtig!«
    Lauterbach zögerte einen Moment. Er erkannte die Stimme. Immer und überall schien alles sehr wichtig zu sein. Aber schließlich stieß er einen Seufzer aus und nahm ab. Der Anrufer hielt sich nicht mit höflichen Floskeln auf. Während Lauterbach zuhörte, spürte er, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er richtete sich unwillkürlich auf. Das Gefühl der Bedrohung sprang ihn so plötzlich an wie ein Raubtier.
    »Danke, dass du angerufen hast«, sagte er mit heiserer Stimme und drückte das Gespräch weg. Wie erstarrt stand er im Halbdunkel. Ein Skelett in Eschborn. Tobias Sartorius zurück in Altenhain. Seine Mutter war von einem Unbekannten von einer Brücke gestoßen worden. Und eine ehrgeizige Beamtin vom K 11 in Hofheim wühlte in alten Akten. Verdammt. Der teure Whisky schmeckte bitter. Achtlos stellte er das Glas ab und ging eilig die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Es musste nichts bedeuten. Das alles konnte Zufall sein, versuchte er sich zu beruhigen. Aber es gelang ihm nicht. Lauterbach setzte sich auf das Bett, streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sich zurücksinken. Eine Flut unwillkommener Bilder rauschte durch seinen Kopf. Wie konnte es sein, dass eine einzige, an sich unbedeutende falsche Entscheidung so katastrophale Auswirkungen hatte? Er schloss die Augen. Die Müdigkeit kroch durch seinen Körper. Seine Gedanken glitten von der Gegenwart auf verschlungenen Pfaden in die Welt der Träume und Erinnerungen.
Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz …

Dienstag, 11. November 2008
    »Bei dem Skelett handelt es sich um ein Mädchen, das beim Eintritt des Todes zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt gewesen ist.« Dr. Henning Kirchhoff war in Eile. Er

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